Den Sonntagsmantel und die Schuhe teilte sie sich mit ihrer Schwester. Die Mädchen wechselten sich jeden Sonntag beim Gang in die Kirche ab. Im Religionsunterricht konnte Senza deshalb einmal den Inhalt der Predigt nicht wiedergeben. Zur Strafe schlug ihr der Frühmesser mit einem Stock auf ihre Handrücken. Tagelang konnte sie nicht mehr schreiben, geschweige denn arbeiten. Bei einem „Versehgang“ las der Vater dem Geistlichen dann ordentlich die Leviten. Beschwerlich war der Schulweg ins Dorf vor allem im Winter. In ihrer dürftigen Kleidung war ihr meist kalt. Auf dem Heimweg schulterten sie und ihre Geschwister die Körbe mit Heu, die der Vater an einer kleinen Feldscheune bereitgestellt hatte. Oft rutschten sie aus.
Bereits mit neun Jahren verbrachte sie zwei Monate bei einem Bauern in Lichtenberg, wo sie alleine in den Auwäldern dreizehn Rinder und zwei Pferde hüten musste. „I hon vor di Rösser a morts Ongst kopp“, erinnert sie sich. Mit 16 Jahren trat sie ihren ersten Dienst als Magd an, ebenfalls in Lichtenberg. Ein Gewand, Strümpfe und Schuhe waren ihr Lohn. Nach einem Jahr wechselte sie nach Trafoi, wo sie einige Lire bekam. Im Winter wurden alle Kräfte beim „Trentinern“ gebraucht. Das war die Bezeichnung für das manuelle Holzsägen. Senza hatte 1950 soeben eine Stelle in Sulden angetreten, als sie heimgerufen wurde. Ihre Mutter war bei der Heuarbeit über einen Felsen gestürzt. Tage später starb sie. Daraufhin blieb Senza bei Vater und Bruder auf dem Hof. Ein Jahr später trat die Schwester dort an ihre Stelle und Senza nahm eine Dienststelle in Prad an. Es folgten mehrere Sommersaisonen im Gastgewerbe in Davos, immer unterbrochen von Zeiten, in denen sie daheim „im Dienst“ war. Eines ärgerte sie sehr. Während die Schweizer Kellnerinnen Zimmerstunden und wöchentlich einen freien Tag zugestanden bekamen, konnte sie nur davon träumen. Der Lohn war allerdings sehr hoch. Doch sie hatte wenig davon, weil sie ihn daheim abgeben musste. Ihr blieb nur das Trinkgeld. Damit kaufte sie sich ihre Aussteuer, denn sie schmiedete Zukunftspläne mit Kilian Pinggera vom „Faslarhof“. Dessen Schwester schmiedete dieselben Pläne mit ihrem Bruder auf „Falatsch“. Im Jänner 1961 feierten beide Paare Doppelhochzeit. Beinahe wären sie wegen des hohen Schnees nicht rechtzeitig zur Kirche in Stilfs gelangt. Senza schenkte ihrem Mann drei Kinder und versorgte Haus und Hof, während er im Baugewerbe Geld verdiente.
Im September 1981 hackte sie Kartoffeln aus der Erde und als sie den gefüllten Korb aufhob, spürte sie einen brennenden Schmerz im rechten Auge. Die Netzhaut war gebrochen, und damit begann ihr Leidensweg. Ein Arzt in Meran operierte erfolglos. Nachdem sie vor dem zweiten Eingriff stundenlang der Zugluft im Gang des Krankenhauses ausgesetzt war, erkrankte sie an einer schweren Lungenentzündung. „Selm woas i nichts mea, i moan i honn schun in Petrus gsechn“, sagt sie. Man brachte sie in die Uniklinik nach Innsbruck. Dort wurde ihr später bewusst, dass man sie zu spät überstellt hatte. Inzwischen war auch das linke Auge stark beeinträchtigt. Es konnte stabilisiert werden. Bei einer Untersuchung stellten Ärzte zudem fest, dass ein Lungenflügel nicht durchblutet war, eine Spätfolge der vielen Erkältungen in ihrer Kindheit. „Miar sein oft kronk gweesn unt di Muatr hot ins lai mit Gearschtwosser kuriert“, erklärt sie. Eine weitere Operation folgte, von der sie sich nur schwer erholte.
Zu allem Unglück befiel der „graue Star“ das linke Auge, was wieder eine Operation nach sich zog. „I siech foscht nichts mea, obr s` Mundwerk funktioniert nou“, scherzt sie und ihr Humor blitzt auf. „Oft wunderts miar, dass i überhaupt nou do bin.“
Magdalena Dietl Sapelza
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau