Das Wasser plätschert in Strömen auf die grauen Pflastersteine vor dem Friedhof, als wolle mich eine höhere Macht davon abhalten, die schwere Eisentür zu öffnen, um der Vorstellung Gestalt zu geben.
Zögernd schaue ich mich um. Wie aus dem Nichts taucht eine freundliche, ältere Dame auf, die meinen suchenden Blick bemerkt haben muss. „Suchen Sie etwas?“
Sie zeigt in die Richtung, in der sich zwei Holztafeln befinden, nachdem ich ihr den Grund meiner Suche verraten habe. Doch bevor ich weitere Fragen stellen kann, verschwand sie wieder – in das Nichts, aus dem sie gekommen war.
Die Holztafeln, die nach Südosten hin, an der Turmmauer angelehnt sind, deuten wahrhaftig auf muslimische Grabstätten hin - aufgrund des Hilalsterns, der eingraviert über folgende Inschriften thront:
AGIC HAJRIJA 1925 – 1993
SISTEK RIFA 6.11.1955 – 31.07.1955
Blumen umrahmen die Holztafeln, die den einfachen Grabtafeln die Atmosphäre einer Grabstätte verleihen.
Die Inschriften verwirren mich. Geboren im November, gestorben im Juli desselben Jahres? Handelt es sich um muslimische Frauen, Männer, Kinder? Warum wurden sie in einem christlichen Friedhof zur letzten Ruhe gebettet?
An jenem Tag öffne ich noch einmal eine Tür, um das Geheimnis, welches diese rätselhaften Gräber in sich tragen, zu lüften.
Dieses Mal ist es kein schweres Friedhofstor, sondern die Haustür der Historikerin, Grundschullehrerin und Autorin Helene Dietl Laganda.
Ich ahnte zu Beginn des Gesprächs nicht annähernd, mit welchen Erkenntnissen ich ihr gemütliches Haus am Abend verlassen werde.
Helene Dietl Laganda beginnt zu erzählen:
In Bosnien und Herzegowina wütete der Tod, Angst, Schrecken, Vergewaltigung. Die Spaltung des sozialistischen Jugoslawiens führte zum sogenannten Bosnienkrieg, der von 1992 bis 1995 die Bevölkerung dieser Gebiete in Atem hielt.
460 bosnische, kroatische und serbische Kriegsflüchtlinge schlugen sich durch, verließen ihre vom Krieg gebeutelte Heimat und erreichten das Dorf Mals, das in ihren Augen wohl wie ein Paradies des Friedens gewirkt haben muss.
Die Heimatvertriebenen beklagten sich nicht, dass sie in der alten Kaserne untergebracht wurden; dass nur provisorisch angebrachte Decken sie um Zentimeter von den Nachbarfamilien trennten; dass absolut keine Privatsphäre herrschte.
Es gab keine Proteste - weder von Seiten der Flüchtlinge, noch von Seiten der Dorfbewohner. Über Telefon und Listen erfuhren die Geflüchteten vom Tod ihrer Verwandten und Familienmitglieder, die gezwungen waren, in der Heimat auszuharren.
Unter den Flüchtlingen befanden sich jene unschuldige Wesen, die wohl am Wenigsten für den Terror in ihrer Heimat verantwortlich waren: Kinder.
Als Grundschullehrerin bekam Helene die Problematiken des Alltags für die Kinder mit.
Einerseits gab es sprachliche Kommunikationsprobleme, die mit Sprachkursen kompensiert wurden. Das Trauma von Gewalt und Terror blieb. „Kinderaugen verbergen nichts“, sagt Helene.
Ein Kind sprach lange Zeit mit niemandem mehr, als hätte ihm das Geschehene in der Heimat die Kehle zugeschnürt.
Ein anderes Kind hatte panische Angst in die unteren, oft verdunkelten Räume zu gehen, da dies die grausamen Gedankenfetzen von Vergewaltigung, Missbrauch und Gefangenschaft in ihm hervorrief.
Angstausbrüche quälten einen Jungen, der als Kriegsgefangener als lebendes Schutzschild missbraucht wurde. Die Haustüren waren oft vermint. Jeder weitere „Auftrag“, jeder weitere Schritt hätte den Tod bedeuten können.
Wenn die Listen mit den Toten aus ihrem Ursprungsland umgingen, wurden die Kinder unruhig. „Ist mein Vater auch unter den Toten? Meine Mutter, Schwester, Bruder….“
Es war an einem Sporttag, als eine Schülerin zusammenbrach. Auf der Liste stand der Name ihres Vaters, der in Bosnien gefallen war.
Wenig später stellte sich jedoch heraus, dass es sich bei dem Gefallenen um einen Namensvetter, und nicht um ihren Vater handelte. Ein Gefühlswirbel, der für das Mädchen glücklich ausging. An diesem Tag sah Helene das Kind zum ersten Mal lächeln, seitdem sie es kannte.
„Um auf die islamischen Gräber zurückzukommen“, schildert die Historikerin – auch jene Bestatteten waren geflüchtete Frauen aus Bosnien.
Ursprünglich waren es drei Gräber, die lange gepflegt wurden. Im Laufe der Zeit wurden diese verkleinert, bis nur mehr die Holztafeln und ein paar Blumen übrig waren. Ein Grab fehlt komplett.
Besonders blieb ihr das Schicksal einer dieser Frauen in Erinnerung. Ihr Sohn, ein paramilitärischer Kämpfer, zog in den Krieg. Die Schwiegertochter flüchtete mit ihrem Enkel nach Mals. Sie selbst schaffte es nicht zu flüchten, sie wurde in einem Konzentrationslager gefangen gehalten. Ihr Sohn und seine Frau kauften sie Jahre später frei. Angekommen in Mals versuchte sie, das Erlebte zu verdrängen und teils zu verarbeiten. Dieser Versuch misslang, weshalb sie kurze Zeit darauf verstarb.
Dekan Hubert Unterweger, der damals in Mals tätig war, erlaubte es, sie zu bestatten. Er war weltoffen, hatte ein Herz für die Geflüchteten. Er war vielen einen Schritt voraus.
Die Gräber der Frauen zeigen in den Südosten; in jene Richtung, in der für den Islam einer der wichtigsten Orte liegt: die heilige Stadt Mekka. Die ungewöhnliche Anordnung der Jahreszahlen ist darauf zurückzuführen, dass der Islam eine andere Zeitrechnung verwendet. Diese unterscheidet sich von unserer dadurch, dass sie als Basis den Stand des Mondes verwendet, und nicht jenen der Sonne.
Für Brisanz sorgte einige Jahre später der Tod vom Stern-Reporter Gabriel Grüner, ein gebürtiger Malser, der von einem Serben im Kosovo im Jahr 1999 erschossen wurde. Daraufhin befürchtete man Ausschreitungen zwischen den Einheimischen und den aufgenommenen Flüchtlingen, welche aber glücklicherweise ausblieben.
Bosnien als Brücke vom Abendland zum Morgenland; vom Mensch zum Mensch.
Anna Alber
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