Montag, 30 November 2015 00:00

Stille kleine Welt

Artikel bewerten
(0 Stimmen)

s17 077Gottfried Lechner ist taubstumm. Er hat gelernt, sich zu arrangieren. Gottfried hilft im Dorf mit, er trägt bei Begräbnissen vor dem Trauerzug das Kreuz, bei Prozessionen eine Fahne.

von Brigitte Alber

Gottfried Lechner ist am 25. November  1943 in Laatsch geboren. Als Kleinkind schlief er viel, das Sitzen lernte er später als andere. In ihrer Sorge suchte Mutter Marianna Hilfe bei mehreren Ärzten bis sich heraus stellte, dass das Kind nicht hören konnte.


Heute – gut 70 Jahre später begegnen wir Gottfried aktiv und freundlich lächelnd im Dorf. Auf der Straße, in der  Kirche, auf dem Friedhof, im Geschäft, im Gasthaus. An vielen Orten ist er wie zu Hause und bietet seine Hilfe an. Er räumt etwa leere Flaschen in den Keller oder hilft, neue Ware im Geschäft aus zu packen. Er bringt für manche Dorfbewohner die Einkäufe nach Hause oder hilft, Wertstoffe auflegen oder Holz hacken. „Ohne Gottfried könnten wir uns es gar nicht mehr vorstellen“, erzählt Sonja Wallnöfer, die einen besonders guten Draht zu ihm hat.
Ich verstehe Gottfried nicht, wenn er gestikuliert und Laute von sich gibt. Es tut mir leid, denn ich hätte gern seine Sichtweise von der Welt erfahren. Seine Familie und Freunde verstehen ihn. Er würde mit allen gerne reden und hätte vieles zu erzählen.
Im Gasthaus Lamm. Gottfried blättert die Tageszeitung durch und ich denke, dass er liest. Es täuscht. Zwei Jahre besuchte Gottfried in Laatsch die Grundschule – zwei Mal die erste Klasse. Als er kaum Fortschritte machte, beschloss die Mutter, ihn ins Internat für Schwerhörige nach Hall zu schicken. Gottfried lernte gut, doch er litt unter großem Heimweh. Vielleicht zwei oder drei Jahre war er dort, dann entschieden die Eltern, die Schule ab zu brechen und den Buben zu Hause zu lassen.
Gottfried hat gelernt sich zu arrangieren. In der Zeitung schaut er die Bilder an. Vor allem die Todesanzeigen interessieren ihn. Jede Beerdigung im Dorf bedeutet eine große Aufregung. Gottfried trägt vor dem Trauerzug das Kreuz. Er nimmt außerdem bei fast jeder Beerdigung in den Nachbardörfern teil. Bei den Prozessionen trägt er eine Fahne. Das ist für ihn eine bedeutende Aufgabe – er fühlt sich groß. Früher läutete er manchmal die Glocken in der St.-Leonhards-Kirche. Wenn jemand gestorben ist, zeigt er mit einer Handbewegung, dass das „Ziegnglöcklein“ geläutet hat.
Sonntags besucht er gewöhnlich die Messe in Mals, anschließend ist es ihm wichtig  etwas trinken zu gehen. Er trifft seinen Freund Sepp, mit ihm versteht er sich gut. Bei Bräuchen bringt sich Gottfried gerne ein. Goaßlschnöllen bei der Fasnacht und am ersten Mai und Scheiben schlagen sind Höhepunkte für ihn.
Zurück zur Jugend. Nach dem Internat half Gottfried in der elterlichen Landwirtschaft mit. Er war immer fleißig und nie der Arbeit müde. Der erste große Schock traf ihn 1972, als Vater Joseph plötzlich starb. Sein älterer Bruder Martin kam mit seiner Frau und zwei Kindern aus England zurück. Martin und seine Frau Margaret, Gottfried und die Mutter führten die Landwirtschaft viele Jahre weiter.
Mit allen Traktoren konnte er gut fahren. Er achtete besonders auf die Kinder in der Nähe, da er sie nicht hören konnte. Mit der roten Vespa fuhr Gottfried bis zur Schweizer Grenze und auf alle Feste. Auf der Rückfahrt von Schluderns hatte er einmal einen Unfall mit einem Lastwagen. Schwere Kopfverletzungen verlangten einen langen Aufenthalt im Krankenhaus von Meran. Seitdem rührte Gottfried  die Vespa nicht mehr an.
Der nächste Schock war der Tod des jüngeren Bruders Luis 1997, der mit 57 Jahren beim Schifahren plötzlich starb.
Als die Mutter 2007 ins Altersheim in Mals kam, besuchte Gottfried  sie jeden Tag mindestens ein Mal. In den ersten Jahren im Sommer mit der Vespa, im Winter und später zu Fuß. Bald kannte er die anderen BewohnerInnen und die Schwestern des Heimes, die Besuche waren für ihn eine nette Unterhaltung.
Gottfried lebt nun alleine in dem Haus am Platz. Seine Schwägerin Margaret versorgt ihn liebevoll und gut. Er ist ein Teil der Familie. Die Neffen und Nichten und deren Kinder mögen ihn und umgekehrt. Er weiß, dass die Familie für ihn sorgt. Und dass die Leute im Dorf ihn akzeptieren.
„Ich glaube er ist zufrieden in seiner kleinen Welt“, sagt Margaret. Er kennt alle im Dorf und alle kennen ihn und er fühlt sich wohl.

{jcomments on}


Warning: count(): Parameter must be an array or an object that implements Countable in /www/htdocs/w00fb819/vinschgerwind.it/templates/purity_iii/html/com_k2/templates/default/item.php on line 248
Gelesen 4843 mal
Mehr in dieser Kategorie: « Um Haarrissbreite Kolping im Vinschgau »

Schreibe einen Kommentar

Make sure you enter all the required information, indicated by an asterisk (*). HTML code is not allowed.

Ausgaben zum Blättern

titel 23-24

titel Vinschgerwind 22-24

titel vinschgerwind 21-24

 sommerwind 2024

 

WINDMAGAZINE

  • Jörg Lederer war ein Holzschnitzer aus Füssen und aus Kaufbeuren. Die Lederer-Werkstatt hat viele Aufträge im Vinschgau umgesetzt. Wer will, kann eine Vinschgautour entlang der Lederer-Werke machen. Beginnend in Partschins.…
    weiterlesen...
  • Die Burgruine Obermontani bei Morter am Eingang ins Martelltal wurde für einen Tag aus ihrem "Dornröschenschlaf" wachgeküsst. von Peter Tscholl Die Akademie Meran, die Gemeinde Latsch und die Bildungsausschüsse Latsch…
    weiterlesen...
  • Vinschger Radgeschichten - Im Vinschgau sitzen alle fest im Sattel: Vom ultraleichten Carbon-Rennrad bis hin zum E-Bike mit Fahrradanhänger, Klapprad, Tandem oder Reisefahrrad. Eine Spurensuche am Vinschger Radweg. von Maria…
    weiterlesen...
  • Kürzlich wurde von den Verantwortlichen im Vintschger Museum in Schluderns das Kooperationsprojekt Obervinschger Museen MU.SUI gestartet. Es handelt sich um den gemeinsamen Auftritt der Museen in Schluderns VUSEUM/Ganglegg, Mals, Taufers…
    weiterlesen...
  • Blau, dunkelgrün, schneeweiß schäumend, türkis oder azur - Wasserwege im Vinschgau von Karin Thöni Wasser ist Quell des Lebens und unser kostbarstes Gut. Aber es wird knapper. Der „Wasserfußabdruck“ jedes…
    weiterlesen...
  • Martin Ohrwalders Liebe zu den Pferden muss ihm wohl in die Wiege gelegt worden sein. Bereits im Alter von drei Jahren schlug er seiner Mutter vor, die Garage in einen…
    weiterlesen...
  • Manfred Haringer ist Sammler, Modellbauer und Heimatforscher. Im letzten Jahr konnte er seinen alten Traum verwirklichen. In seinem Elternhaus in Morter, wo bis Ende des Zweiten Weltkrieges die Dorfschule untergebracht…
    weiterlesen...
  • Die historische Bedeutung von Schlossruinen und ihre Geschichte faszinieren die Menschen. Mit mehreren Revitalisierungsmaßnahmen erwacht derzeit die Ruine Lichtenberg in der Gemeinde Prad am Stilfserjoch zu neuem Leben. von Ludwig…
    weiterlesen...
  • Il grano della Val Venosta era conosciuto e apprezzato in tutto l' impero Austroungalico. Testo e Foto: Gianni Bodini Oggi sono i monotoni ed estesi meleti punteggiati da pali in…
    weiterlesen...
  • Questa importante strada romana attraversava tutta la Val Venosta. Testo e Foto: Gianni Bodini Iniziata da Druso nel 15 a.C., venne completata dall’imperatore Claudio Cesare Augusto. Questa importante via transalpina…
    weiterlesen...
  • von Annelise Albertin Das Val Müstair mit seiner intakten Naturlandschaft und den kulturellen Besonderheiten ist das östlichste Tal der Schweiz. Es liegt eingebettet zwischen dem einzigen Schweizerischen Nationalpark, den „Parc…
    weiterlesen...
  • Eine Symbiose zwischen der Geschichte und dem Lebensraum rund um das kunsthistorische Hotel „Chasa Chalavaina“ im benachbarten Val Müstair von Christine Weithaler Das Hotel Chasa Chalavaina wurde am 13. November…
    weiterlesen...

Sommerwind 2024

zum Blättern

Sommer Magazin - Sommerwind 2024 - Bezirk Vinschgau Südtirol - Wandern, Menschen, Urlaub, Berge, Landschaft, Radfahren, Museen, Wasser, Waale, Unesco, Tourismus

wanderfueher 2024 cover

zum Blättern

Wanderführer 2024 - Bezirk Vinschgau Südtirol - Traumhafte Touren Bergtouren Wanderungen Höhenwege

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.