Dienstag, 01 Oktober 2013 09:06

Nationalpark Stifserjoch - Die Geheimnisse des Ortler-Eises Die ersten Ergebnisse aus den Untersuchungen der Eiskernbohrungen von 2011

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P1100805Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Nikolaus von Flüe, 25. September 2013

Am 5. September in Sulden und am 10. September in Bozen wurden die 1. Untersuchungsergebnisse  vorgestellt, welche bis jetzt aus den Bohrkernen vom Gletscher des Ortlers gewonnen wurden. Diese Bohrkerne waren im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes „Ortler Ice Core“ im September 2011 entnommen worden. Das Projekt wird von Prof. Lonnie Thompson und vom Trentiner Glaziologen Paolo Gabrielli an der State Ohio University in den Vereinigten Staaten von Amerika koordiniert.

Inzwischen arbeiten am Projekt Wissenschaftler aus 6 verschiedenen Ländern mit, darunter auch Südtiroler Institutionen. Gletscher sind paläoklimatische Archive, welche in ihren Eisschichten wertvolle und interessante Informationen zu verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften aufbewahren. Und bevor die Gletscher in Zeiten der Erderwärmung und des Klimawandels abschmelzen und damit die im Eis konservierten Informationen unwiederbringlich verloren gehen, werden Bohrkerne entnommen und die Eiszylinder in Tiefkühlzellen  für die nachfolgend möglichen Forschungen aufbewahrt. Die Eissäulen haben einen Durchmesser von ca. 10 cm und sind Meter für Meter identifiziert.
Von den vier im September 2011 auf 3.850 Metern Meereshöhe knapp unterhalb des Ortler-Gipfels entnommenen Eiskernen ist bisher (erst) einer von den Forschern der verschiedenen Fachrichtungen untersucht worden. Die Bohrungen waren von der Oberfläche durch das Grundeis bis zum gewachsenen Felsen vorangetrieben worden. Sie hatten eine Eismächtigkeit  am Ortler-Gletscher von 76 m ergeben.
Im heutigen Beitrag möchte ich versuchen, die 1. Untersuchungsergebnisse am Ortler-Eis zusammenzufassen

DSC 7363Warum gerade der Ortler?
Im Rahmen des Suldner Informationsabends hat Paolo Gabrielli die Frage beantwortet, warum gerade der Ortler-Gletscher bebohrt worden ist. Der Ortler türmt sich im niederschlagsarmen Vinschgau als einem inneralpinen Trockental zum höchsten Berg der Ostalpen auf. Bei den geringen jährlichen Niederschlagssummen braucht es einen langen Zeitraum, bis sich aus den geringen Schneeauflagen über Firnbildung ein Eis-panzer von vielen Metern Mächtigkeit aufbaut. Es konnte daher als Arbeitshypothese angenommen werden, dass die untersten Eisschichten am Ortler-Gletscher ein sehr hohes Alter aufweisen müssten.

DSC 8378Welche Temperaturen herrschen im Ortler-Eis?
Interessant sind die im Bohrkern ermittelten Temperaturen des Eises. In den oberen dreißig Metern hatte das Eis eine Temperatur von + 0°C, lag also beim Schmelzpunkt des Eises bzw. Gefrierpunkt des Wassers. In den unteren Eisschichten von 30 bis 70 m Tiefe nahm die Temperatur nach unten von -0,5 bis -3,5°C ab. Diese höhere Eistemperatur in den oberflächennahen Schichten und die tiefere Temperatur in den unteren Schichten ist zunächst überraschend, hat aber ihre einsichtige Erklärung in der Klimaänderung in den letzten 100 Jahren von 1911 – 2011. Aus der Auswertung der Messergebnisse, welche in den umliegenden meteorologischen Messstationen in großer und mit dem Ortler vergleichbaren Höhenlage seit Beginn der Messungen um 1860 bis 2010 erhoben worden sind, wissen wir, dass die Jahresdurchschnittstemperatur der Luft in 3.500 m MH über einen längeren Zeitraum -4°C betragen hatte. Im kurzen Zeitraum der letzten 30 Jahre von 1980 bis 2010 ist der Jahresmittelwert der Lufttemperatur in 3.500 m Höhe recht dramatisch um 2°C auf nur mehr -2°C angestiegen. Diese Erhöhung der Lufttemperatur hat auch zu einer Erwärmung des Eises in seinen oberen Schichten bis in die Nähe seiner Schmelztemperatur geführt. Noch wirken diese oberen Eisschichten auch am Eispanzer des Ortlers als Isolator und verzögern das Eindringen der Wärme aus der angestiegenen Lufttemperatur in tiefere Eisschichten. Modellrechnungen im Team von Paolo Gabrielli haben ergeben, dass die Eistemperatur auch in den tieferen Schichten des Ortler-Eises im Zeitraum 2020-2050 um 1,8°C ansteigen werden. Damit wird sich der Ortler-Gletscher in einen sogenannten „gesamttemperierten“ Gletscher umwandeln. In der Temperaturbilanz des Gletschers muss auch die Geothermie (Erdwärme) einbezogen werden, welche von unten auf das Eis einwirkt.

Welche Folgen hat die Eiserwärmung?
Wenn das Schmelzwasser des bereits heute in den oberen 30 m temperierten Eises das Grundeis am Ortler erreichen wird, wird dieses Wasser wie ein Gleitmittel wirken und zum Beispiel die Fließgeschwindigkeit des Gletschers beschleunigend verändern. Als Konsequenz werden etwa die Häufigkeit und die Mächtigkeit der Eisbrüche an der Stirnseite des Gletschers zunehmen. Ein mächtiger Eisbruch  vom Ortler ist etwa vom 22. Juli 2009 dokumentiert. Der Abschmelzprozess der Eismassen wird beschleunigt werden.

CIMG6832Wie alt ist nun das Ortler-Eis?
Paolo Gabrielli hat in Sulden zunächst ausgeführt, dass alle Gletscher unserer Erde in ihren Schichten, welche in den Jahren zwischen 1956 und 1963 entstanden sind, eine erhöhte Radioaktivität aufweisen. In dieser Zeitspanne haben die Länder, welche über die Atomenergie verfügten, ihre Atomsprengversuche überirdisch in der Erdatmosphäre ausgeführt. Dies hatte eine weltweite Fernverfrachtung radioaktiver Teilchen und deren Ablagerung und Konservierung auch im Eis der Gletscher zur Folge.  Für den Ortler-Gletscher war die erhöhte Tritium-Radioaktivität jetzt in den Laboruntersuchungen zum Bohrkern in einer Tiefe zwischen 40 und 45 m nachweisbar. Der Schluss daraus: Wenn der Anfall von diesen radioaktiven Teilchen zeitlich in die Jahre 1956-1963 eingeordnet werden kann, bedeutet dies, dass die obersten 40-45 Meter Eis am Ortler in den letzten 50-60 Jahren entstanden sind.
Zur Schätzung des Altes von Grundeis wird von den Gletscherforschern zunächst auch ein mathematisches Modell herangezogen. Dieses Modell wird mit zunehmendem Wissen ständig auch mit neuen Daten ergänzt und dadurch in seiner Zuverlässigkeit verfeinert. Aus der von Paolo Gabrielli und seinem Team an der Universität in Columbus durchgeführten Modellrechnung ergab sich für das Grundeis am Ortler ein errechnetes Alter von ca. 400 Jahren. Das tatsächliche Alter des Grundeises am Ortler liegt aber mit 2.650 Jahren (!) deutlich höher. Damit sind die tiefen Schichten des heutigen Ortler-Gletschers um ca. 650 Jahre vor Christi Geburt, also in der archäologischen Zeittafel in der Eisenzeit entstanden. Wie kann das behauptet werden? Die Eisforscher hatten das Glück, dass im ersten Bohrkern in 72 m Tiefe eine Lärchennadel eingeschlossen war. Deren organisches Baumaterial hat eine Altersbestimmung mit der sogenannten Kohlenstoff-14-Methode zugelassen.

Errechnetes und tatsächliches Alter
Wie ist es möglich, dass das über das mathematische Modell errechnete Alter des Eises vom tatsächlichen Alter so stark abweicht? Paolo Gabrielli hat diese große Differenz damit erklärt, dass die Rechenmodelle für die untersten 10-5 m Eis sehr ungenau und unzuverlässig sind, weil in diesen tiefen Eisschichten ob des hier herrschenden Druckes und des großen darüber liegenden Gewichtes die Firneisschichten so stark verdichtet und verändert sind, dass eine Schichtenstruktur nicht mehr vorhanden und somit eine zuverlässige Alterszuordnung der amorphen Masse nicht mehr möglich ist.

 

INFO: Das Grundeis des Ortlers ist 2.650 Jahre alt. Somit ist seine Entstehung in der archäologischen Zeitleiste in die Eisenzeit einzuordnen. Ein bildhafter Vergleich zur zeitlichen Einordnung: Hannibal, der berühmte Feldherr der Karthager hat die Alpen mit seinen 38 Elefanten  von der Iberischen Halbinsel Richtung Italien im Feldzug gegen die Römer unter Scipius im Jahre 218 v. Chr. (in einer Wärmezeit) überquert.

 

Gespannt
Auf weitere Forschungsergebnisse darf man gespannt sein, so etwa auf die Untersuchungen der im Eis eingeschlossenen Pollenkörner. Diese Untersuchungen werden von Prof. Klaus Oeggl und seinen Mitarbeiter(innen) am Botanischen Institut der Universität Innsbruck durchgeführt.
Gespannt darf man dann etwa auch auf die neuen Erkenntnisse der Höhen-Mediziner sein. Dr. Hermann Brugger als Leiter des Institutes für alpine Notfallmedizin an der EURAC in Bozen und sein Mitarbeiter Giacomo Strapazzon haben die Reaktionen der Körper der Eisforscher während der Bohrkampagne im September 2011 beim länger dauernden Aufenthalt in großer Höhe zu ihrem Forschungsobjekt gemacht. Neue Erkenntnisse zur Höhenkrankheit, zum Lungenödem und zum Hirnödem sollen gewonnen werden.


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