Nicht nur Nordtirol und das Trentino haben mit Südtirol eine lange gemeinsame Geschichte. Auch das benachbarte Graubünden und besonders das Münstertal und das Unterengadin waren mit Südtirol und besonders dem Vinschgau eng verbunden. Der Vinschgau gehörte lange zu Churrätien und bildete mit dem Unterengadin eine Grafschaft. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte der Vinschgau kirchenrechtlich zum Bistum Chur. Der Hl. Florinus aus Matsch bzw. Remüs, der einzige Heilige aus dem Vinschgau, war im 7. Jahrhundert Pfarrer in Ramosch im Unterengadin. Das Unterengadin war Lehen der Grafen von Tirol. Die Gründung des Klosters Marienberg geht auf die Herren von Tarasp und auf Uta von Tarasp zurück. 1499 kam es im Schwabenkrieg bzw. Engadiner Krieg zu Auseinandersetzungen zwischen den Habsburgern und den Eidgenossen. Bei uns gab es die Calvenschlacht. Viele Dörfer im Vinschgau und im Engadin wurden zerstört. Aus dieser Zeit stammt die Geschichte der „Donna Lupa“ aus Tschlin. Der Überlieferung nach soll sie am 18. Juli 1499 im Schwabenkrieg die Besetzung und Plünderung Tschlins durch die Habsburger Truppen durch eine List verhindert haben. Während die Dorfbevölkerung in der Kirche bei einer Beerdigung war, drangen Tiroler Spione in das Haus der Donna Lupa ein, die gerade das Leichenmahl zubereitete. Geistesgegenwärtig behauptete die Frau, das opulente Essen sei gedacht für die eidgenössischen Truppen, die derzeit gerade im Anmarsch seien. Die Boten erschraken wegen dieser Nachricht und flüchteten zu Tal. Daraufhin verschonte der befehlshabende Oberst Tschlin im Gegensatz zu allen anderen Ortschaften im Tal. Eine einfache Holzskulptur am Brunnen in Tschlin neben der Kirche erinnert an dieses Ereignis und an Donna Lupa.
Donna Lupa – Schellen-Ursli – Selina Chönz und Engadiner Häuser
Tschlin ist eine kleine Ortschaft im Unterengadin auf 1.533 m ü.M., am schnellsten erreichbar über Nauders und Martina. Zusammen mit Ramosch bildet Tschlin heute die Gemeinde Valsot. Andere Ortschaften im Unterengadin sind die Gemeinde Scuol (mit Guarda, Bos-cha, Ardez, Fta, Sent und Tarasp) und die Gemeinde Zernez (mit Susch und Lavin). Insgesamt leben im Unterengadin nur rund 7.000 Personen. Im Mittelalter führte durch das Unter- und Oberengadin eine alte Handelsstraße zwischen Innsbruck und dem Comersee auf dem Weg nach Mailand. Während Tschlin die Heimat von Donna Lupa ist, ist Guarda die Heimat des Schellen-Ursli. Selina Chönz (1910 – 2000), eine Kindergärtnerin und Autorin, die bis 1981 in Guarda lebte, hat 1945 das bekannte Kinderbuch geschrieben. Alois Carigiet hat das Buch illustriert. „Hoch oben in den Bergen, weit von hier, da wohnt ein Büblein, so wie ihr“, so beginnt die Geschichte von Ursli, der zu Chalandamarz mit der großen Glocke durchs Dorf ziehen möchte. Beim Brauch des Chalandamarz, der alljährlich am 1. März stattfindet, wird mit lautem Glockengeläut der Engadiner Kinder der Winter ausgetrieben und der Frühling angekündigt. Ursli soll die kleinste Schelle bekommen und als Letzter beim Umzug durch das Dorf und um die Dorfbrunnen gehen. Alleine geht er auf dem gefährlichen Weg durch den tiefen Schnee hinauf zur Almhütte, um von dort die große Kuhglocke zu holen. Seine Eltern und alle Dorfbewohner suchen nach dem kleinen Ursli. Überglücklich kommt er am nächsten Tag mit der größten Glocke und darf den Umzug anführen. Heute gibt es in Guarda ein Museum, wo das Kinderbuch und verschiedene Übersetzungen gezeigt werden und Einblicke über den Schellen-Ursli aus Guarda geben. Außerdem gibt es einen 3 km langen Schellen-Ursli-Rundweg. Eine Besonderheit in Guarda, aber auch in den anderen Dörfern des Engadin und des Münstertales sind die Engadiner Häuser. 1975 erhielt Guarda den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes. Die Fassadenmalereien der Häuser sind vor allem in der Sgraffitto-Technik ausgeführt. Dabei werden zuerst verschiedenfarbige Putzschichten aufgetragen und dann Teile der oberen Putzschicht abgekratzt und freigelegt, sodass durch den Farbkontrast ein Bild erzeugt wird. Steivan Liun Könz (1940 – 1996), ein Sgraffitokünstler und Sohn von Selina Chönz, hat im Engadin rund 100 Häuser bemalte. Ein Spaziergang durch die engadiner Dörfer ist ein besonderes Erlebnis. Man entdeckt enge Gassen, Fassaden mit Drachen, Fabelwesen, Meerjungfrauen und verschiedenen Verzierungen, viele Brunnen, Erker, schöne Tore und viele rätoromanische Sprüche auf den Hausfassaden.
Randulinas – Zuckerbäcker - Engadiner Torte und ein Bahnprojekt
Das Unterengadin, dieses abgelegene Hochtal, das vor allem von der Landwirtschaft lebte, war über Jahrhunderte geprägt von Armut und Not, so wie der Vinschgau. Viele mussten wegziehen und anderswo ihren Lebensunterhalt verdienen. Viele blieben mehrere Monate weg und kamen dann wieder in ihre Heimat zurück. Diese Emigranten werden „Randulin“ (Schwalben) bzw. in der weiblichen Form Randulinas genannt, weil sie wie die Schwalben fortzogen und dann im Sommer wieder zurückkehrten. Viele dieser Emigranten sind nach Venedig und haben dort als Zuckerbäcker und Konditoren gearbeitet. Viele waren auch als Branntwein- und Milchverkäufer, Schuster oder Messerschleifer tätig. Nachdem sie aus Venedig vertrieben wurden, arbeiteten sie als Zuckerbäcker in ganz Europa. Diese Randulins brachten nicht nur Geld nach Hause zurück, sondern auch neue Ideen und neue Erfahrungen. Die Bündner bzw. Engadiner Nusstorte ist heute die bekannteste Spezialität des Kantons Graubünden und neben dem Birnbrot das bedeutendste Exportprodukt der Bündner Bäcker und Konditoren. Das Unterengadin liegt in unserer Nachbarschaft und ist uns doch so fremd. Über die wildromantische Uina-Schlucht von Schlinig nach Sur En kann man es zu Fuß erreichen. Es gibt außerdem ein Interreg-Projekt einer Bahnverbindung vom Unterengadin in den Obervinschgau. Eine Variante wäre eine Zugverbindung von Mals nach Scuol mit einem 23 km langen Tunnel und Anschluss an das Rhätische Bahnnetz. Dieses Projekt könnte die Vinschger und Unterengadiner wieder näher zusammenbringen.
Heinrich Zoderer
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