Donnerstag, 10 März 2011 10:23

Im Bauch der Genossenschaften

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Die Lagertechniken der VI.P

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Die Bilder wiederholen sich jeden Herbst: Mit Großkisten voll beladene Traktoren knattern langsam zu den Vinschger Genossenschaften. Dort werden die Äpfel vom Waagmeister gewogen, vom Qualitätsverantwortlichen geprüft und dann eingelagert. Ein Blick hinter die Kulissen der gigantischen Lagerhallen, ein Blick in die Vinschger Apfelhöhlen.

Der Zutritt ist genau geregelt. „Nur jene, die hier arbeiten, dürfen sich auch hier aufhalten“, sagt Wolfgang Graiss, der Qualitätsmanager der VI.P. Hier, das sind die Vorratskammern der Genossenschaften, die Lagerhallen. 314.360 Tonnen an Äpfeln sind im vergangenen Jahr geerntet und in die sechs Vinschger Genossenschaften eingelagert worden. Visualisiert, datiert und etikettiert vom Qualitätsverantwortlichen der jeweiligen Genossenschaft - so wie es das Reglement der VI.P vorsieht. Reifere Äpfel kommen in jene Zellen, die spätestens im Februar wieder geöffnet werden. Weniger reife Äpfel halten sichlänger in den Zellen auf, mitunter bis August, bis zum Anschluss an die neue Ernte. 40 bis 45 Waggons an Äpfeln kann eine Zelle im Durchschnitt fassen. In Kilogramm ausgedrückt sind das mindestens 450.000. Manche Zellen in den Vinschger Genossenschaften vermögen noch größere Mengen zu lagern.


Riesige technische Anlagen lehnen sich an die Betonmauern der breiten Lagergänge. Absorber, Stickstoffgeneratoren, Ventilatoren, Paneele der Kühlanlagen: Die Technik dominiert das Innenleben. Dazwischen herrscht emsiges Treiben. Gabelstapler flitzen mit Großkisten beladen durch die langen, grauen Gänge. Leere Kisten werden auf die Stapel im Freien gepackt; volle Kisten hingegen auf LKWs geladen. Über Russland, Skandinavien, Großbritannien, Spanien oder Nordafrika gehen die Vinschger Äpfel in alle Welt. Fast die Hälfte der Ernte ist heuer bereits verkauft. Es ist März und damit Halbzeit in der Apfelvermarktung.

Hüter der Äpfel in den Lagerhallen sind die Kühlhaustechniker, auch Kühlhauswarte oder Lagertechniker genannt. Die Bezeichnung variiert mit der Genossenschaft. Die Kühlhaustechniker steuern die ausgefeilten Lagertechniken in den computerüberwachten Zellen. „CA-Lagerung“ nennt sich im Genossenschaftsjargon die klassische Lagertechnik. CA, das steht für „Controlled atmosphere“, heißt „kontrollierte Atmosphäre“ und ist das, was jeder Frau geheimer Wunsch sein dürfte. Denn in dieser sogenannten kontrollierten Atmosphäre bleiben Äpfel über Monate knackig und frisch. Ohne zu altern und runzelig zu werden. Wundertechnik steckt keine dahinter. Vielmehr beruht das Ganze auf einer einfachen wissenschaftlichen Tatsache: Äpfel atmen. Äpfel verbrauchen Sauerstoff und produzieren Kohlendioxid. Genau so wie es der Mensch tut.
In den Zellen mit kontrollierter Atmosphäre wird – vereinfacht gesagt - die Zeit angehalten und damit der optimale Reifezustand. Die Äpfel verbringen, wenn man so will, einen Schönheitsschlaf. „Wellnessurlaub“ nennt es Graiss. Ein Wellnessurlaub, der physikalisch und chemisch definiert ist. Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Sauerstoff- und Kohlendioxidgehalt werden in den gasdichten Zellen genau gesteuert und kontrolliert. Bei eineinhalb Grad Celsius hält die Lagertemperatur; die Luftfeuchtigkeit pendelt zwischen tropischen 93 und 95 Prozent. Der Sauerstoffspiegel, der in unserer Atemluft knapp 21 Prozent beträgt, wird auf mindestens zwei Prozent abgesenkt und der Kohlendioxidgehalt unter zweieinhalb Prozent gehalten. Der Rest, sagt Graiss, wird mit Stickstoff gefüllt. Stickstoff ist der Platzhalter. Die Prozentpunkte sind Referenzwerte. Das Gasgemisch variiert, weil es der Apfelsorte und der Fruchtreife angepasst wird. Apfel ist nicht gleich Apfel; das Wellness-Programm wird abgestimmt, sozusagen individuell angepasst. Der Stoffwechsel der Äpfel steht in dieser kontrollierten Atmosphäre nahezu still. Die Äpfel atmen nur mehr minimal und bleiben knackig und frisch. Ein kleines Fenster am Eingang der Lagerzellen weist auf die kontrollierte Atmosphäre, auf ein CA-Lager hin. Wird eine Lagerzelle geöffnet, dürfen die Lagerhallen für mindestens drei Stunden von niemandem betreten werden. Bis sich das Gasgemisch verflüchtigt hat, besteht Lebensgefahr.

Einige Zellen haben kein Fenster. Die Öffnung ist völlig abgedunkelt. „Das sind unsere DCA-Zellen“, sagt Graiss. Was nach Weltraum klingt, heißt dynamisch kontrollierte Atmosphäre und ist eine technische Revolution. Angezettelt im Vinschgau. Vinschger Genossenschaften waren vor fünf Jahren jene, an denen die DCA-Technik ihren Praxistest durchlief. Mit Erfolg wurden Sorten in Tiefschlaf versetzt, die für Schalenbräune anfällig sind. Im Vinschgau ist das die Sorte „Stark“. Ein Quantensprung ist damit in der Lagerung gelungen, der Vinschgau gilt seitdem als weltweite Referenz dafür.

Zwei riesige Kühlpakete hängen in etwa dreizehn Meter Höhe und sorgen für eine perfekte Luftumwälzung. Komfortabel sind die dynamisch kontrollierten Zellen ausgestattet. In einer Reihe von Rohren zirkuliert rund um die Uhr Kühlflüssigkeit. Temperaturfühler messen die Kälte. Die Stockordnung, die in den DCA-Zellen herrscht, folgt strengen Regeln und lässt einwandfreie Luftzirkulation zu. Nicht an einem, sondern in fünf bis sieben Tagen wird eine DCA-Zelle gefüllt und erst dann verschlossen, wenn der Temperaturwert bei weniger als einem Grad Celsius liegt. Das Frische-Geheimnis liegt aber im Sauerstoffgehalt. Hier wird an die Grenzen gegangen. „Es wird jener Punkt gesucht, an dem der Apfel nur noch leicht atmet“, erklärt Graiss. Die Kunst ist also den Apfel nahezu in Atemnot zu bringen, den tiefstmöglichen, von den Äpfeln noch tolerierten, Sauerstoffgehalt zu ermitteln. Fluoreszenz heißt das Zauberwort und ist gleichzeitig das Instrument, das zum Einsatz kommt. Denn wird der Apfel mit Sauerstoffentzug gestresst, sendet er besondere Farbsignale aus. Diese Signale fängt der sogenannte Fluoreszenz-Sensor ein, der in einer Box mit sechs Äpfeln liegt. Sechs Boxen befinden sich insgesamt in einer dynamisch kontrollierten Zelle. Macht in Summe 36 Äpfel, die ihre Impulse aussenden und im Grunde dafür verantwortlich sind, dass  die restlichen rund 450.000 Kilogramm in einer Zelle nicht ersticken. Deshalb, sagt Graiss, ist die Auswahl dieser sogenannten Sensorenäpfel sehr wichtig. Sie nehmen einen repräsentativen Stellenwert ein. Ein geschultes Auge ist hier gefragt. Der Qualitätsverantwortliche der Genossenschaft hat es.s37_5390

Einem Cockpit gleicht die Computerzentrale, die leicht erhöht liegt. Von hier aus überwachen und kontrollieren die Kühlhaustechniker die DCA-Zellen und damit die Äpfel. Die Signale der Äpfel, die Lebenszeichen, sammelt ein Computer und bündelt sie in einer Grafik, die am Monitor sichtbar ist. Hier wird feststellbar, ab welchem Moment die Äpfel Stress bekommen haben, ab wieviel Prozentpunkten Sauerstoffentzug sie ihre Farbe gewechselt haben. „Beim Menschen würden wir sagen, wann er blau geworden ist“, veranschaulicht Graiss. Damit die Äpfel keinen Schaden nehmen, muss die dynamisch kontrollierte Atmosphäre mit dem ermittelten Sauerstoffgehalt innerhalb zwölf Stunden vom Kühlhaustechniker angepasst sein.

Nicht nur eine, gleich mehrere Stressphasen durchlaufen die Äpfel bei der dritten Lagerungstechnik, die in den Vinschger Genossenschaften Anwendung findet: der ILOS plus. Im Fokus steht das natürlich gebildete Reifegas Ethanol, das Äpfel im Stress vermehrt bilden. Mehrere Stressphasen mit Sauerstoffentzug sollen Ethanol in den Äpfeln auf einem bestimmten Niveau und den Alterungsprozess damit unter Kontrolle halten. Ethanolmessungen geben Aufschluss über jene Lagerbedingungen, die eine gute Qualität und keine Schalenbräune garantieren. Zwischen drei und sechs Messungen führen die Kühlhaustechniker in jedem Erntejahr durch. Denn jedes Jahr reagieren die Äpfel anders.

Die Äpfel im Vinschgau werden nicht mehr mit chemischen Stoffen nachbehandelt. Mit der DCA und der ILOS plus, um im Fachjargon zu bleiben, ist der VI.P und damit den Vinschger Genossenschaften etwas gelungen, auf das man seit Jahren hingearbeitet hat: Man ist frei von chemischen Nachernte-Behandlungen. Dem Markt ist man damit zuvorgekommen. Denn in Zukunft wird eine Nacherntebehandlung nicht mehr erlaubt sein. Beste Voraussetzungen, dass sich bis Erntebeginn, bis die Traktoren mit Großkisten beladen anrollen, auch die letzte Zelle in den Vinschger Genossenschaften geleert hat.

Angelika Ploner


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