Dienstag, 10 Januar 2012 00:00

Muttersprache und Vaterland

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italianIn Trient, in der Nähe des Castello del Buonconsiglio gibt es einen Stadtteil mit Bauten aus den Dreißigerjahren; nach den engen Gassen der Altstadt stehen wir vor einer Art Tor, hinter dem sich ein großer Innenhof mit faschistischer Architektur öffnet. Es sind allerhand kommunale Bauten, vor allem für die Jugend, ganz ähnlich den neuen Stadtvierteln von Bozen, in denen noch überall Denkmäler an die faschistische Herrschaft erinnern.
Während bei uns über deren Verbleib noch herumgestritten und herumprobiert wird, haben die Trentiner schon lange gehandelt. Der Engel mit dem Siegeszeichen wurde zwar belassen, das Faschobeil mit dem Rutenbündel aber wurde herausgemeißelt, zusammen mit der darunter angebrachten Schrift, die sich wahrscheinlich auf Mussolini bezog. Wann wurde diese politische „Reinigung“ durchgeführt und von wem? versuchte ich von Passanten zu erfahren, auch von einem Stadtpolizisten. Aber niemand gab Bescheid und so musste ich mühevoll versuchen, die teils verstümmelten Textteile zu entziffern. Immerhin kann ich Italienisch, wenn es auch nicht meine Muttersprache ist.


Damit bin ich bei meiner Mutter, die vor mehr als 100 Jahren, also noch vor dem Ersten Weltkrieg, als kleines Mädchen nach Rovereto in die Schule der Englischen Fräulein geschickt wurde, um Italienisch, die Sprache des Nachbars zu erlernen. Das machten damals, als unser Land noch zu Österreich gehörte, viele Tiroler; auch die Trentiner schickten ihre Kinder in Schulen, die meist von Klosterfrauen geleitet wurden, etwa nach Hall, um ordentlich Deutsch zu lernen.
Darüber habe ich mich mit meiner Mutter unterhalten und sie gefragt, wie das so war mit dem Verhältnis zwischen Deutschen und Italienern. Sie wusste nur Gutes zu berichten und war recht stolz darauf, dass sie damals, als 1920 die Herrschaft der Italiener über unser Land begann, eine der wenigen Personen des Dorfes war, die mit den neuen Herren in ihrer Sprache verhandeln konnte.
aisenponerNur etwas - so bemerkte meine Mutter etwas zögerlich - hätte ihr damals bei den Englischen Damen missfallen. Ihr wurde - wie auch den anderen kleinen Mädchen - nahegelegt, sie sollten zu den Heiligen nur auf Italienisch beten: Denn sonst hilft es nichts! Gott Vater kann nicht Deutsch?
Und was ist dein Vaterland? Danach wurde ich befragt, als ich vor einem halben Jahrhundert, noch als Student, von einem Franzosen per Autostopp mitgenommen wurde. Es war dies die Zeit der Attentate, der gesprengten Masten, der ersten Todesopfer, der Verhaftungen, der Polizeieinsätze. Mein Franzose, der wahrscheinlich aus dem Elsass stammte (weil er gut Deutsch sprach und offensichtlich an der Südtiroler Sache interessiert war) wollte also von mir wissen, was mein Vaterland wäre.
Wir hatten gerade eine Grenze passiert und waren dabei, eine weitere zu erreichen. Wir sind das Vaterland losgeworden! habe ich geantwortet. Und da der Frager sich über meine Antworten zu ärgern begann, versuchte ich mich genauer zu erklären: Weg mit den überflüssigen Grenzen und Behinderungen! Unsere Südtiroler Zukunft liegt in Europa. In der Vielfalt der Sprachen, der Kulturen und der Minderheiten ... nein, das habe ich damals wahrscheinlich nicht gesagt, das ist Vokabular der Gegenwart. Aber gemeint habe ich es schon. Ich sprach von den Ladinern, die friedlich mit den Deutschen und Italienern zusammenleben. Haben sie ein Vaterland?
Sie müssen, um zu überleben, ständig auf mehreren „Instrumenten“ spielen, wie geschickte Musiker und müssen vermitteln. Das ist viel wichtiger, als einer großen Nation anzugehören, wie die Franzosen und natürlich auch wie die Italiener, die Erfinder des Faschismus ... vom deutschen Größenwahn ganz abgesehen. Der Elsässer war mit mir keineswegs zufrieden, ärgerte sich über die Erwähnung der Schweiz als zwar kleinen, aber gut funktionierenden Vielvölkerstaat. Vielleicht wollte er aus mir einen Freiheitskämpfer machen? Oder vielleicht war er ein Spitzel der Polizei oder des italienischen Innenministeriums, das meine politische Einstellung prüfen wollte?
fahnZurück in die Gegenwart, in das Jahr 2010. Unter welcher Fahne fühle ich mich wohl? Vor der Kulisse der Dolomiten flatterte lustig eine mir noch unbekannte rot-weiß-rote Fahne. Das war am Rollepass, vor dem Cimon della Pala, nahe dem Übergang von Südtirol ins Trentino. Eine Fahne mit Adler und Krone - die Bedeutung ist mir nicht ganz klar. Der schwarze Adler, das ist die Provinz Trient ... ich weiß fast nichts von unseren Nachbarn!
Vor mir liegt das Buch der Historikerin Clara Marchetto „Non c‘é storia del Trentino senza Tirolo“. Also: Es gibt keine Geschichte Trentinos ohne Tirol. Viele jüngere Trentiner haben sich von ihrem antiösterreichischen, antihabsburgischen Schock erholt und knüpfen überall dort an, wo man gar nie hätte aufhören sollen. In Tonadico bei Fiera di Primiero entdeckte ich an einer Hauswand den Straßennamen VIA AISENPONERI. Einst eine arme Gegend, mussten sich die Menschen dieser Gegend auswärts Arbeit suchen, vielfach bei der Eisenbahn und kamen dabei durch ganz Österreich, vor allem nach Tirol und Vorarlberg. In Bregenz lebten damals mehr Italiener als in Bozen. Sprachschöpfungen wie die „Aisenponeri“ wuchsen wie die Edelweiß. Und Trentiner „durchwirkten“ Tirol wie die Goldfäden einen kostbaren Stoff. Das klingt zwar etwas übertrieben, ist aber wahr. Diese Italiener haben dem Lande sehr gut getan. In vieler Hinsicht, sogar in politischer ... unser ehemaliger Landeshauptmann Silvius Magnago hatte einen Vater aus Riva und eine Mutter aus Vorarlberg.
Wir freuen uns heute über die neue, europäische Weite und darüber, dass wir in unserer Muttersprache beten dürfen.

Hans Wielander

Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau


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