Arbeiten, verteilen, gestalten: Südtirols Weg durch den demografischen Wandel
- Vorspann: Demografischer Druck, ungleiche Verteilung und technologischer Umbruch – Wirtschafts- und Arbeitsmarktexperte Stefan Perini, der Direktor des AFI, erklärt im Wind-Gespräch, warum Südtirol vor einer tiefgreifenden Transformation steht, welche Chancen und Risiken die KI birgt und welche Schritte nötig sind, um Wohlstand und soziale Sicherheit auch in Zukunft zu sichern.
- Dachzeile: Interview mit Stefan Perini
- Redakteur: Bruno Telser - Interview
Vinschgerwind: Herr Perini, wo sehen Sie als Experte die größten Gefahren im Hinblick auf den demografischen Wandel, angesichts der Tatsache, dass schätzungsweise ein Drittel der Arbeitskräfte in Rente gehen und mangels Nachwuchses nicht ersetzt werden können?
Stefan Perini: Der demografische Wandel – ausgelöst durch die steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten – ist seit Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Es handelt sich um einen schleichenden Prozess, dessen Auswirkungen erst allmählich sichtbar werden. Die anrollende Pensionierungswelle wird die Zahl der Erwerbstätigen signifikant reduzieren. Dies bedeutet, dass dieselbe wirtschaftliche Leistung künftig mit weniger Arbeitskräften erbracht werden muss. Um diesen Rückgang zu kompensieren, ist ein substanzieller Produktivitätsschub erforderlich, der nur durch gezielten technologischen Fortschritt und Automatisierung zu erreichen ist.
Vinschgerwind: Welche Konzepte zur Bewältigung dieser anstehenden Krise gibt es?
Perini: Ich bevorzuge den Begriff „Transformation“ gegenüber „Krise“, da es sich um einen gestaltbaren Strukturwandel handelt. Arbeitsmarktpolitisch gilt es, bislang ungenutzte Potenziale zu mobilisieren, etwa bei jüngeren Ruheständlern, bei Müttern mit Kleinkindern, die aufgrund ungünstiger Rahmenbedingungen nicht gleichzeitig arbeiten können, oder bei den sogenannten „NEETs“ – das sind jene Personen, die weder arbeiten noch in Ausbildung sind. Gleichzeitig müssen die Arbeitsbedingungen so gestaltet werden, dass Südtirol für heimische Fachkräfte attraktiv bleibt und auch Arbeitskräfte aus anderen Gebieten anzieht. Man muss hier an der Schraube der guten Arbeitsbedingungen drehen.
Vinschgerwind: Südtirol gilt als wohlhabende Region. Dennoch haben viele Schwierigkeiten, mit ihren finanziellen Mittel bis zum Monatsende zu kommen. Woran liegt das?
Perini: Das Problem liegt weniger in einer unzureichenden Gesamt-Wirtschaftsleistung, sondern vielmehr in einer ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung. Das AFI betont das seit Jahren immer wieder. Ein hohes BIP pro Kopf kann mit einer beträchtlichen Zahl von Personen einhergehen, die sich schwertun, ihren Lebensunterhalt zu schultern. Leider gibt es in Südtirol nur wenige fundierte Studien, welche die Verteilungsaspekte betrachten. Wahrscheinlich würden detaillierte Analysen aufzeigen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen wirtschaftlich bessergestellt sind, als dies dem Fiskus bekannt ist.
Vinschgerwind: Warum ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im Vinschgau, beispielsweise in Laas, vergleichsweise niedrig?
Perini: Die Daten basieren auf den Steuererklärungen der in der jeweiligen Gemeinde ansässigen Einkommensbezieher. Der Vinschgau weist tendenziell eine geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf als etwa das Pustertal. Mit Blick auf die Südtirol-Karte wird ganz allgemein ein gewisses West-Ost-Gefälle deutlich. Hinzu kommen strukturelle Besonderheiten im Vinschgau wie die hohe Zahl an Grenzpendlern sowie die überdurchschnittlich starke Präsenz der Landwirtschaft.
Vinschgerwind: Funktioniert der Südtiroler Wohlfahrtsstaat noch?
Perini: Ich behaupte, dass das Wohlfahrtssystem in Südtirol, das Elemente des gesamtstaatlichen Systems (Rente, öffentliches Schulwesen, Gesundheitswesen) mit lokalen Elementen integriert (z.B. Pflegesicherung) ein hohes Niveau an sozialer Sicherheit garantiert. Die zentrale Herausforderung der kommenden Jahre besteht darin, diese Leistungsfähigkeit beizubehalten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich Lebensstile, Familienstrukturen und Erwerbsbiografien verändert haben: hohe Scheidungsraten, Patchwork-Familien, kleinere Haushalte, häufigere Erwerbsunterbrechungen und eine gesteigerte Mobilität erfordern neue Denkansätze und Antworten.
Vinschgerwind: Warum wird private Zusatzvorsorge zunehmend als notwendig angesehen? Hat der Sozialstaat versagt?
Perini: Seit der Rentenreform Mitte der 1990er Jahre, die den Übergang vom einkommens- zum beitragsbezogenen System markierte, ist eine vollständige und kontinuierliche Erwerbsbiografie entscheidend für eine angemessene Altersversorgung. Wer durchgängig regulär beschäftigt ist und hohe Sozialbeiträge entrichtet, wird im Alter finanziell halbwegs abgesichert sein. Lücken in der Beitragszahlung – etwa durch Schwarzarbeit, informelle Lohnelemente oder lange Erwerbsunterbrechungen führen hingegen zu spürbaren Rentenlücken. Die Leidtragenden sind also Langzeitarbeitslose, Geringbeschäftigte, Saisonbeschäftigte mit sehr kurzen Saisonen und Mütter mit langen Erwerbsunterbrechungen. Das sind die Kategorien, die am höchsten der Altersarmut ausgesetzt sind.
Vinschgerwind: Künstliche Intelligenz – Fluch oder Segen für den Südtiroler Arbeitsmarkt?
Perini: Sie ist beides – und vor allem unvermeidlich. KI und Automatisierung werden bestehende Berufsbilder verändern, einige Tätigkeiten obsolet machen und neue schaffen. Künftig wird weniger die Technologie selbst Arbeitsplätze ersetzen, sondern vielmehr der qualifizierte Einsatz von KI entscheidend sein: Beschäftigte, die KI nutzen, werden jene verdrängen, die dies nicht tun. Entscheidend ist, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Arbeitsrechte gewahrt bleiben – insbesondere Datenschutz, klare Verantwortlichkeiten zwischen Menschen und Maschine sowie eine faire Beteiligung der Beschäftigten am Produktivitätszuwachs - in erster Linie über höhere Löhne. Als AFI verfolgen wir diese Entwicklungen sehr genau.
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