Glurns
Zuerst ein Kriminalfall, nicht gerade ein Mord, aber immerhin ein Diebstahl. Bisher unaufgeklärt, aber vielleicht jetzt lösbar. Es handelt sich um ein Aquarell von Karl Plattner, entstanden vor 1950. Es zeigt den Glurnser Stadtplatz und wurde vor vielen Jahren gestohlen. Jetzt hängt es irgendwo in einem Privathaus; die Besitzer haben es wahrscheinlich ganz legal gekauft, über ein Aktionshaus. Gibt es Hinweise auf den Verbleib dieses Bildes?
Immerhin zeugt diese Geschichte für die frühe Wertschätzung des Künstlers bei uns im Vinschgau. Dabei hatte Plattner bei der Entstehung des Bildes noch einen „unfertigen“ Malstil; die Ergebnisse hat er selbst als „Jugendsünden“ bezeichnet. Tatsächlich stand er in seinen frühesten Arbeiten der Maltradition der Jahrhundertwende nahe, was wir heute als „Nazarenerstil“ bezeichnen. Ein typisches Beispiel dafür ist das Wandgemälde „Chistus ruft die Kindlein zu sich“ in der Prader St.Johannkirche. Jesus als Kinderfreund, dahinter Vater, Mutter und sogar Spielzeug. Ein sehr seltenes Motiv, zumal in einem altehrwürdigen Kirchenbau neben romanischen Fresken. Es wurde schon überlegt, das Fresko abzunehmen oder zu übertünchen. Aber dann wurde Plattner immer berühmter und so hat man sich zurückgehalten. Warum sollte nicht eine neuzeitliche Malerei neben den vielen anderen Zeitdokumenten, den gotischen und barocken Denkmälern bestehen dürfen? Der aus dem Krieg heimgekehrte Künstler hat vielleicht lieber an die Jugend, als an Kruzifixe und Märtyrer gedacht. Die Schrecken des Krieges wollte er loswerden. Dass sie ihn noch lange verfolgen werden, zeigt der düstere Ernst vor allem in seinen Menschenbildern. Aber auch die Befreiung ist überall zu verspüren, vor allem auch im Finden eines eigenen künstlerischen Weges.
Auftragsarbeiten für den als Wandmaler handwerklich ausgebildeten Künstler gab es bereits in der Optionszeit, also seit 1939, als viele Südtiroler im Begriff waren, ihre Heimat für immer zu verlassen. Der vielseitig begabte Karl wurde beauftragt, ein letztes Bild des Hauses oder Hofes zu malen, als Erinnerung an die alte Heimat. Die engen Gassen der Vinschgauer Dörfer, die sich berührenden Dächer, zwischen denen der blaue Himmel durchblitzt, die Verwinkelung der immer wieder erweiterten Häuser ... daraus hat sich ein eigener Stil entwickelt, der seit 1950 seine Malerei bestimmt. Verflechtungen überall, Verwerfungen scheinen durch das Gelände, die ganze Landschaft wird zum Akt und der Akt zur Landschaft. Diese Formelemente prägen alles, wo immer er malt, in Frankreich, in Brasilien oder eben im Vinschgau.
Jugendsünden - gibt es das überhaupt? fragt ein Zweifler. Ist es nicht eher so, dass gerade die frühen „Wallungen“ unerschöpfliche Anregungen für die reife Zeit bieten? Was hat den Karl Platter existenziell bewegt, also sein Innerstes berührt? Dazu gehen wir am besten von der Planeiler Straße über den Weiler „Ulten“ in Richtung Plawenn zur Häusergruppe Alsack, wo fünf Bauern in den Jahre 1960/61unter großen Opfern eine neue Kapelle nach Plänen des Architekten Willi Gutweniger errichtet haben. Ausgestattet wurde diese Marienkapelle mit der Beweinung Christi, einem großen Ölbild von Karl Plattner. Es fand allerdings ursprünglich wenig Gegenliebe. Es gab fast einen Skandal, ähnlich wie mit anderen Werken des unbequemen Künstlers: Es wäre zu wenig religiös und zu sehr der Mode des Kubismus verpflichtet. (Das gemalte Kriegerdenkmal in Naturns wurde sogar teilweise zerstört und musste verhängt werden; die um ihren Sohn trauernde Mutter hat einen zu großen Busen!)
Die Alsacker Marienkapelle ist mittlerweile zu einer Pilgerstätte für Kunstfreunde geworden. In den umliegenden Höfen bekommen Besucher gerne den Schlüssel und wenn dies auch nicht immer gelingt, so wird das ergreifende Bild immerhin durch die Fensterscheibe sichtbar. Und so habe ich es eben durch die Verglasung angeschaut, mit allerhand Lichtreflexen und „kubistischen“ Elementen. In dieser Beweinung Christi ist der ganze Plattner enthalten, formal, farblich, inhaltlich. Die Malser Heide, die Mutter, Trauer, Tod, die Zusammenschau eines großen Meisters. Selbstverständliche Einheit, als könnte es gar nicht anders sein.
Das gestohlene Glurnser Bild wird sich wohl kaum auffinden lassen, aber die verschiedenen Werke werden nun überall sichtbar und gebührend geschätzt. Die Malser lassen sich allerhand einfallen und sind als erste Gemeinde dabei, eine Wallfahrt zu Kunststätten zu errichten, mit breiter Zustimmung der Bevölkerung.
Der junge Karl Plattner hat gerne Karten gespielt. Da er, bevor er als großer Künstler weitum bekannt wurde, wenig Geld hatte, bezahlte er seine Spielschulden oft mit Bildern. So hingen in manchen Gasthäusern seine Bilder mit Szenen aus dem Malser Volksleben: Im Gasthaus, beim Viehmarkt, Brautschau. Die beliebten Motive mussten allerdings, da es hier auch Diebe gibt, in Sicherheit gebracht werden. Desto erfreulicher ist die geplante Ausstellung im Kloster Marienberg mit vielen unbekannten „Jugendsünden“.
Hans Wielander
WINDMAGAZINE
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