Es war ein paar Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in Japan. Die Begriffe Fukushima, Stuttgart 21 und Wutbürger geisterten durch die deutsche Medienlandschaft. Und dann holten sich die Grünen in Baden- Württemberg fast ein Viertel der Stimmen bei der Landtagswahl und stellten den neuen Ministerpräsidenten. Ich saß mit ein paar Freunden in einer Bar. Die Bild-Zeitung berichtete in gewohnt brachialer schwarz-rot Malerei über dieses Ereignis. Und unverhofft entbrannte auch in unserer kleinen Freundesrunde eine angeregte Diskussion. Irgendjemand, ich weiß nicht mehr, wer es war, schmiss die Frage in den Raum, inwieweit außergewöhnliche Ereignisse Auswirkungen auf die Politik und besonders auf Wahlen haben können? Recht schnell legte sich jeder für sich auf eine Antwort fest und argumentierte kurz seinen Standpunkt. Doch dann stellte mein Freund Paul eine Frage, die uns erst lange zum Überlegen brachte und dann in eine kontroverse Diskussion überleitete: Haben außergewöhnliche Ereignisse Auswirkungen auf die politische Landschaft in Südtirol? Und weil Paul schon seit jeher bekannt war, immer einen draufzusetzen, legte er laut vor sich hindenkend nach: „Einen grünen Landeshauptmann kann ich mir nicht vorstellen. Wenn dann könnte das nur einer aus der politischen Mitte sein, wie der SVP, nur halt Mitte links, aber die gibt es ja bei uns nicht. Wieso eigentlich? Wieso gibt es in Südtirol keine sozialdemokratische Partei?“
Und auf diese Frage hatte erst mal keiner eine Antwort parat.
Während wir es schafften, den Abend dann doch noch unpolitisch ausklingen zu lassen, beschäftigte mich Pauls Frage auch die nächsten Tage weiter. Eine gute Antwort fiel mir nicht wirklich ein und so beschloss ich, der Sache genauer auf den Grund zu gehen. Ich weihte meinen Chefredakteur in meine Ratlosigkeit ein und bekam nach kurzer Rücksprache den redaktionellen Sanktus zur Aufarbeitung des Themas im „Wind“ - und der Chef bot sich gleich als Komplize an. Die Spurensuche konnte beginnen.
Wie es der Zufall wollte, war in den
nächsten Tagen ein Interview unserer Zeitung mit dem Obmann der Südtiroler Volkspartei, Richard Theiner, angesetzt. Theiner sitzt als Vertreter der Arbeitnehmer im Landtag und ist Landesrat für Gesundheit, Familie und Sozialwesen. Genau der richtige Gesprächspartner, dachte ich mir, um den sozialdemokratischen Tendenzen im Land auf den Zahn zu fühlen. Doch Theiner antwortete ausweichend. Für ihn stehen vielmehr die Werte einer Partei im Mittelpunkt, nicht ihre Ideologie. Theiner sagte auch, dass ohne das Prinzip der Sammelpartei, das heißt alle verschiedenen politischen Interessen in einer Partei zu bündeln, die deutschsprachige Minderheit Südtirols in Italien verloren wäre – eine starke Partei, ein starkes Volk. Das Bedürfnis nach einem zweiten großen deutschen politischen Block stelle sich daher nicht.
Als ich mich in das Thema einlas, ist mir dieses Argument schon öfters untergekommen: Interessen sammeln, Kräfte bündeln, um stark Rom gegenüber auftreten zu können. So hat die SVP die letzten fast sieben Jahrzehnte regiert und so auch ihren Machtanspruch begründet. Doch gilt diese Urangst des bedrohten Volkes auch heute noch, in Zeiten von Autonomie und vereintem Europa?
Wenn die Volkspartei schon den Anspruch stellt, Vertreter aller Südtiroler zu sein, beschloss ich mir ihr Parteiprogramm mal genauer unter die Lupe zu nehmen – im Besonderen den Abschnitt über die Beziehung zu den Arbeiternehmern. Denn wie ich in der Schule gelernt habe, sprechen sozialdemokratische Themen besonders Arbeiter, Angestellte, Dienstleister an. Und da 70 Prozent der Südtiroler Arbeiter, Angestellte und Dienstleister sind, müsste die SVP diese ja besonders in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Und wirklich, Arbeit und soziale Themen sind bestimmende Themen des Programms. Doch eine Formulierung im Statut machte mich dann doch stutzig, heißt es da doch in einem Absatz: „Die Südtiroler Arbeitnehmer brauchen eine Wahrnehmung ihrer Interessen durch eine unabhängige Gewerkschaftsvertretung“. Was soll das jetzt bedeuten? Etwa, dass die SVP für die Arbeitnehmer gar nicht zuständig ist oder gar sein will? Unter dem entsprechenden Punkt zur Landwirtschaft las ich im Programm nirgends, dass die Interessen der Bauern vom Bauernbund vertreten werden müssten, oder jene der Wirtschaft von den Wirtschaftsverbänden. Vielmehr steht dort, dass die bäuerliche Kultur besonders zu schützen sei, sozusagen als Bewahrer unserer Identität, während die Wirtschaft gefördert werden müsse für den Erhalt der Volksgruppe. Werden die Interessen und Probleme der Arbeitnehmer, der Mehrheit der Bevölkerung, also ausgelagert und der Gewerkschaft untergeschoben?
Ist die SVP also doch keine astreine Sammelpartei, sondern überspitzt formuliert, eine Partei der Bauern und der Wirtschaft? „Ja, regelrecht“, sagt Hans Widmann, Ex-SVP Abgeordneter in Rom und ehemaliger Gewerkschafter, „die SVP hat mit den Arbeitnehmern bis heute keine Freude“. Widmann traf ich an einem sonnigen Freitagmorgen, an dem gestreikt und Kundgebungen abgehalten wurden. Ein passender Rahmen wie ich fand. Der heutige Polit-Pensionär war in den Siebzigern einer der Mitbegründer einer sozialdemokratischen Partei in Südtirol, die sich um den legendären Politfuchs Hans Dietl scharte. Allerdings war dieser Bewegung eine recht kurze Lebenszeit beschieden und Widmann kehrte schon bald zur SVP zurück. Wie geht das also zusammen, dass es trotz der vielen Arbeitnehmer keine sozialdemokratische Partei gibt? „Ethnisch geht das zusammen“, glaubt Widmann. Die Partei appelliere an den Zusammenhalt der Südtiroler, eine zweite große Partei würde diesen Zusammenhalt gefährden, sagen sie, erklärt Hans Widmann. Alt-Landeshauptmann Silvius Magnago erkannte diese Gefahr und erfand den SVP Arbeitnehmerflügel. Für Widmann ist dieser Flügel aber nur ein „Feigenblatt“ für den Machterhalt. Und auch an das Schreckgespenst Untergang der Volksgruppe glaube er nicht. Allerdings, sagte Widmann weiter, müsse ja nicht gleich die ganze SVP abgewählt werden: „Die Leute könnten beim Wählen auch innerhalb der Volkspartei das Kreuzchen an der richtigen Stelle machen. Wenn einige Großkopfete fliegen würden, würde sich einiges ändern. Hubert Frasnelli, langjähriger Spitzenexponent der SVP-Arbeitnehmer, bekennender Sozialdemokrat und mein nächster Gesprächspartner, hat eine andere Theorie zum Erfolg der SVP bei den Arbeitnehmern. „Das ist eine psychosoziale Geschichte: Wenn ich in einem Industriebetrieb arbeite, zugleich aber auch bei den Schützen, beim Kirchenchor oder in der Musikkapelle bin, dann lebe ich in diesen Vereinen auf. Da spüre ich meine Wurzeln. Wenn dann Mandatare auftauchen, die dann gerade diese Welt ansprechen, sind die Ohren richtig geöffnet. Vielmehr, als wenn Kandidaten auftreten, die mich an die beschissenen acht Stunden in der Industrie erinnern. Ein falscher Gedanke, weil die Politik ja die beschissenen acht Stunden zu verbessern versuchen muss.“
Ich fasse also zusammen was ich bisher in Erfahrung gebracht habe: Die anscheinend von Bauern und Wirtschaft geprägte SVP hat mit der Sozialdemokratie wenig Freude und stellt die Volkseinheit über alles. Sie wird aber trotzdem gewählt, weil die Südtiroler eben als erstes Südtiroler sind und erst dann Bauer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ich spreche mit Hans Heiss von den Grünen. Ihm wird nachgesagt, einer der wenigen Intellektuellen im Land und ein politischer Denker zu sein, wie mir mein Chefredakteur eifrig versichert. Heiss glaubt noch eine weitere Möglichkeit zu kennen, wieso die Sozialdemokratie in Südtirol nicht vorhanden ist. „Südtirol hat eine katholische, christlich-soziale und wertkonservative Tradition. Und die Sozialdemokratie ist ein Gegner, der von außen gekommen ist. Ein Import sozusagen, landfremd und so von vornherein mit einem Malus belastet. Wir sind eine Volksgemeinschaft und keine Klassenkampfgesellschaft. Die meisten Arbeitnehmer fühlen sich nicht als Lohnempfänger, sondern als Besitzende, bösgesagt als Kleinbürger.“
Es sind also wieder einmal die besonderen Umstände in Südtirol, die nach fast hundert Jahren immer noch die politische Tagesordnung bestimmen. Was müsste denn nun aber passieren, dass sich in der Parteienlandschaft links der Mitte etwas etablieren könnte? Für Hans Heiss ist klar: „Die soziale Situation ist so, dass man eine sozialdemokratische Partei dringend gebrauchen könnte. Wir dulden soziale Ungerechtigkeiten, geben Hilfen und Zuckerlen, aber beseitigen nicht die Grunddifferenzen.“ Auch Hubert Frasnelli glaubt, dass eine solche Partei in Südtirol notwendig wäre. „Es müsste ein Mitte-links Projekt sein mit den drei Standbeinen, Sozialdemokraten, Bürger und Liberale.“ Und um Rom gegenüber geschlossen auftreten zu können, ließe sich schon ein Modus finden, ist sich Frasnelli sicher. Hans Widmann schlägt einen anderen Weg vor. Wie Heiss und Frasnelli sieht auch er die Notwendigkeit einer sozialdemokratischen Partei. „Ich täte sie nicht sozialdemokratische Partei nennen, sondern ihr einen anderen Namen geben. Denn es soll nicht nur auf das Soziale hinauslaufen, sondern auch andere Themen abdecken.“
Vielleicht dachte Widmann ja an so etwas wie die Piratenpartei. An dieses noch junge politische Phänomen, dem auch wegen ihrer klaren Abgrenzung zu den klassischen Volksparteien in Europa und neuerdings auch in Südtirol viel Sympathie entgegen schlägt. Und an Themen, an denen sie sich reiben kann, fehlt es in unserem kleinen Land offensichtlich ja nicht. Vielleicht sollte ich die Piraten in unserer nächsten bierseligen Runde einbringen. Mal gespannt, was Paul dazu sagen wird. (map)
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