Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Franz von Assisi, 4. Oktober 2011
Neben den Gletschern der Arktis und der Antarktis sind die Inlandgletscher der höchsten Berge in den verschiedenen Kontinenten unserer Erde wichtige Klimaarchive. Die Eiskappen der Inlandberge enthalten aufschlussreiche Informationen zur Florengeschichte und zur Vegetationsabfolge über einen längeren Zeitraum. Das Gletschereis kann auch Erhellungen zur Besiedlung und Landnutzung durch den Menschen bringen. Bevor diese wichtigen Informationen durch die Klimaveränderung verloren gehen und durch die Erderwärmung buchstäblich dahin schmelzen, sollen sie durch die Entnahme von Bohrkernen gesichert und für die nachfolgenden Untersuchungen erhalten werden.
Am oberen Eis des Ortlers ist seit dem 23. September und für ca. drei Wochen ein Forschungscamp als Zeltdorf eingerichtet. Ein Team von Forschern entnimmt im Rahmen des Projektes „Ortler Ice Core“ Eisbohrkerne aus dem Gletscher des höchsten Berges der Ostalpen. Diesem Projekt wissenschaftlicher Forschung ist mein heutiger Beitrag gewidmet.
Forschungsgruppe und Projektpartner
Ein internationales Netzwerk aus italienischen, amerikanischen und österreichischen Instituten und Forschungseinrichtungen hat nach sorgfältiger Vorbereitung und vielversprechenden Voruntersuchungen in den Jahren 2009 und 2010 in diesen Tagen mit den Eisbohrungen am oberen Ortler-Gletscher auf 3.850 m MH zur Entnahme von orientierten Bohrkernen begonnen. Die Koordination des Projektes liegt dabei beim Byrd Polar Research Center (BPRC) mit Institutsleiter Prof. Lonnie Thompson von der Ohio State University in den Vereinigten Staaten und bei der Abteilung Zivilschutz der Autonomen Provinz Bozen Südtirol mit Direktor Dr. Hanspeter Staffler und dem angeschlossenen Hydrographischen Landesamt. Prof. Lonnie Thompson ist ein international bekannter und renommierter Eisforscher, der an 50-60 Forschungsexpeditionen in 15-16 verschiedenen Ländern teilgenommen hat und als einer der Menschen mit dem längsten Aufenthalt in großer Höhe gilt. Mitarbeiter im Team von Prof. Thompson und Projektsteuerer am Gipfel des Ortlers ist der Trentiner Geologe und Glaziologe Dr. Paolo Gabrielli. Wissenschaftliche und logistische Projektpartner sind weiters verschiedene Institute der Universitäten Venedig, Innsbruck, Wien, Padua und Pavia, das Amt für Geologie sowie die Abteilungen Forstwirtschaft und Wasserschutzbauten der Südtiroler Landesverwaltung, das Trentiner Naturmuseum, das deutsche und italienische Schulamt der Autonomen Provinz Bozen, die Europäische Akademie Bozen mit den Instituten für Angewandte Fernerkundung, Ärzte des Institutes für Alpine Notfallmedizin der Eurac und des Krankenhauses Schlanders, die Stiftung ahref aus Trient und der Nationalpark Stilfserjoch. Für die Gesundheit der Forscher im Eiscamp sorgen die Ärzte, für deren Verpflegung und für die Logistik die Bergführer der Alpinschule Ortler in Sulden.
Voruntersuchungen 2009 und 2010
In den Jahren 2009 und 2010 wurden am oberen Ortler-Ferner erste umfangreiche und erfolgversprechende Voruntersuchungen durchgeführt. Diese Untersuchungen ergaben eine Schichtmächtigkeit des Eispanzers zwischen 60 und maximal 75 Metern. Radarmessungen zeigten den Übergang von Firn zu Eis in einer Tiefe von ca. 24 m. Überraschend war auch, dass die Massenbilanz im oberen Teil des Ortler-Gletschers in den letzten zwei Jahren durchwegs positiv war. Sie betrug ca. 1.000 mm pro Jahr.
Studium der Vergangenheit
Wie bereits gesagt, kann man aus dem Eis des Ortlers wichtige Informationen zum historischen Verlauf der Temperatur und des Niederschlages erwarten, aber ebenso zur Vegetation und zu den Bodentypen. Auch Rückschlüsse auf Emissionen durch Brände, Bergbau und Industrie können möglich werden.
Studium der Gegenwart
Die paläoklimatische Untersuchung wird von weiteren Forschungstätigkeiten begleitet. Die Universität Padua wird auf dem Gletscher eine meteorologische Station testen, die Uni Pavia und das Südtiroler Landesamt für Geologie und Baustoffprüfung werden die Auswirkungen der Erderwärmung auf den Permafrost erforschen. Die EURAC Bozen wird mittels Fernerkundung die Veränderungen der Gletscherausdehnung erheben sowie medizinische Untersuchungen am wissenschaftlichen Personal zur Früherkennung von Höhenkrankheiten durchführen. Am Botanischen Institut der Universität Innsbruck sollen die im Eis eingeschlossenen Pollenkörner von Blütenpflanzen bestimmt werden. Die Bestimmung des Pollenstaubes nach Arten erlaubt Rückschlüsse auf das Pflanzenkleid und das Klima vergangener Jahrhunderte.
Zum Gletscherschwund:
Die Gletscher sind in unseren Bergen die bedeutendsten Wasserspeicher. Unter anderem für unsere Trinkwasser- und Brauchwasserversorgung in der Zukunft besonders interessant ist daher deren Entwicklung, deren Zu- oder Abnahme und Massenbilanz. Thomas Schellenberg vom Institut für Fernerkundung an der EURAC Bozen gibt aus der Auswertung von Satellitenaufnahmen für die Jahre zwischen 1987 und 2010 folgende Flächenausdehnung für die Gletscher im Ortler-Cevedale-Massiv an:
Jahr: Ausdehnung
1987 85,3 km²
1999 74,9
2000 73,7
2009 62,1
2010 60,2
Fazit: In den letzten 23 Jahren (zwischen 1987 und 2010) haben die Gletscher des Ortler-Cevedale- Massivs einen Flächenverlust von 25,1 km² erfahren. Dies entspricht 30 % der Fläche von 1987.
Forschungscamp für Oberschüler
Das interdisziplinäre Projekt zur Eisforschung am Ortler hat auch einen wertvollen pädagogisch-didaktischen Ansatz zugelassen: In der Woche zwischen dem 20. und 24. September durften 20 ausgewählte Oberschüler aus den Abschlussklassen der beiden deutschen Vinschgauer Oberschulzentren Schlanders und Mals und des Realgymnasiums Meran sowie von italienischen Oberschulen in Meran und in Bozen den Eisforschern über die Schultern schauen. Auf der Franzenshöhe im Trafoital wurde ein schulexternes Camp eingerichtet. Die Schüler konnten dabei viele Informationen zur Planung und Vorbereitung von wissenschaftlicher Forschung im Feld sammeln und direkte Eindrücke von deren Durchführung im Freiland gewinnen, in einem Tagebuch festhalten und in eine Internet-Plattform stellen. Zu den Informationen zur Eiskernbohrung wurde den Schülern in Vorträgen und geführten Exkursionen weiters viel Wissen aus den Sachbereichen Glaziologie, Geologie, Meteorologie, Alpinökologie, Pflanzen- und Tierkunde angeboten. Dieser didaktische Teil wurde von den begleitenden Lehrpersonen und Fachexperten aus dem deutschen und italienischen Schulamt, des Naturmuseums Trient und des Nationalparks Stilfserjoch betreut.
Für manchen Maturanten dürfte die leistungsbelohnende Teilnahme am Ortler-Eiscamp auch ein interessantes Thema für die Facharbeit zur Reifeprüfung abgeben und vielleicht auch einen Entscheidungsimpuls zur Wahl der Fachrichtung für ein zukünftiges Universitätsstudium setzen.
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