Wolfgang Platter, am Tag der Hlg. Gervasius und Protasius, Kirchenpatrone in Bormio, 19. Juni 2019

Die pflanzliche und tierische Artenvielfalt kann nur bei entsprechend großer Vielfalt an Lebensräumen groß bleiben. Oder anders ausgedrückt: Es gibt keinen Artenschutz ohne Lebensraumschutz, keine Seerose ohne See und keinen Lurch ohne Wasser.
Alle Pflanzen und Tiere sind in ihren jeweiligen Lebensraum besonders eingepasst. Zwei Beispiele aus der Vogelwelt von engen Bindungen und Beziehungen zwischen Art und Lebensraum möchte ich Ihnen, werte Leserinnen und Leser, im heutigen Beitrag vorstellen.

 

Der Tannenhäher
(Nucifraga caryocatactes)
Eine besondere Anpassung an seinen Lebensraum zeigt der Tannenhäher. Nicht umsonst heißen wir ihn umgangssprachlich „Zirbmgratsch“. Im Alpenbogen ist er besonders eng an den Lebensraum Zirbenwald und damit an den Bergwald an seiner oberen Verbreitungsgrenze gebunden. Die Zirbe bildet mit der Lärche bei uns die obere Waldgrenze. Der Tannenhäher gehört zu den intelligenten Rabenvögeln. Die Grundfarbe seines Gefieders ist dunkel schokoladefarben, Flügel und Schwanz sind schwarz, letzterer mit breiter weißer Entbinde. Unter Aussparung des Oberkopfes und Nackens ist das Körpergefieder mit vielen weißen, tropfenförmigen Flecken übersät. Sein klobiger Schnabel verrät, dass der Tannenhäher ein Samenfresser ist. In den Alpen ist er ganzjähriger Standvogel. Seine Hauptnahrung stellen die Zirbelnüsse dar, auch wenn einzelne Tannenhäher in die Talsohle herunterfliegen und sich mit Hasel- und Walnüssen den Kehlsack fühlen und wieder an die Baumgrenze hinauffliegen. Im Sommer und während der Brut nimmt der Tannenhäher auch Insekten 563B3und andere Kleintiere an, um den Eiweißbedarf abzudecken. Damit der Tannenhäher als ganzjähriger Standvogel im Hochgebirge der Alpen überleben kann, legt er für den Winter Samenvorräte in Verstecken an. Besonders wichtig ist diese Sammeltätigkeit des Hähers für die Zirbe (Arve). Wo dieser Waldgrenzbaum vorkommt, leben die Tannenhäher den ganzen Winter hindurch von Zirbelnüssen. Vorratsverstecke sind im Boden, zwischen oberflächlich verlaufenden Baumwurzeln, in Flechtenpolstern, aber auch in Baumkronen. Der Vogel findet die Verstecke auch bei geschlossener Schneedecke und völlig verändertem Aussehen der Landschaft mit 80%-iger Sicherheit wieder. Sein gutes Orientierungs- und Merkvermögen ist noch weitestgehend unaufgedeckt. Schweizer Forscher haben erhoben, dass der Tannenhäher in einem Jahr mittlerer Ernte etwa 100.000 Zirbelnüsschen versteckt, in einem Jahr mit schlechter Ernte waren es immerhin 47.000. Die nicht mehr gefundenen Zirbelnüsse und -zapfen sind das Keimbeet für die Zirbe. Nicht zu Unrecht wird der Tannenhäher auch „Zirbenwaldgärtner“ genannt. Weil der Tannenhäher die Samen auch in hoch gelegenen Verstecken verbirgt, keimen und wachsen Zirben auch an extremen Standorten, so etwa in schmalen Felsspalten auf blankem Fels oberhalb der geschlossenen Waldgrenze. Außer direkt unter fruchtenden Altbäumen, von denen die Zapfen („Petschln“) zu Boden fallen und bei Nichtverzehr keimen, geht wahrscheinlich der gesamte Jungwuchs an Zirben auf die Sammeltätigkeit des Tannenhähers zurück. Innerhalb des geschlossenen Zirbenwaldes sind aber immerhin auch noch 80% der Jungbäume das Verbreitungswerk des Tannenhähers. Damit hat der Tannenhäher für die Forstwirtschaft des Bergwaldes in den Alpen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.

 

Die Wasseramsel
(Cinclus cinclus)
Die Wasseramsel ist Be- und Anwohnerin an schnell fließenden, flachen Bächen im Wald und 451B3Bergland, häufig in der Nähe von Stromschnellen. Sie steht gern auf Steinen im Wasser und taucht von diesen in das Wasser ein. Sie schwimmt unter Wasser mit Hilfe der Flügel und läuft auch unter Wasser, was durch ihr massives Skelett möglich ist, um Insekten, Fliegenlarven und andere Wassertiere zu suchen. Die Wasseramsel ist bei uns ganzjähriger Standvogel. Im Winter taucht sie vom Eisrand aus. Die Wasseramsel hat aber keine Schwimmhäute zwischen den Zehen wie etwa die Enten- und Gänsevögel, sehr wohl hat sie aber eine Bürzeldrüse, mit deren wasserabweisendem Fett sie ihr Gefieder gegen Durchnässung und Kälte einfettet. Als Erkennungsmerkmal dienen die kugelige Gestalt, der weiße Kehllatz und der kleine Schwanz, der oft, dem Zaunkönig ähnlich, aufgerichtet gehalten wird. Neben der Bürzeldrüse haben Wasseramseln noch weitere Anpassungen an das Leben am und im Wasser: Das Gefieder ist dichter als bei anderen Singvögeln und daher ein guter Isolator. Im Gegensatz zu den meisten Vögeln sind die Knochen (außer die Schädelknochen) nicht hohl, sondern mit Mark gefüllt, was das Körpergewicht erhöht und den Auftrieb verringert. Beim Tauchen können die Nasenöffnungen durch Häute verschlossen werden. Die für das Akkomodationsvermögen der Augen notwendige Muskulatur ist besonders kräftig entwickelt. Man deutet dies als Anpassung für das Sehen unter Wasser. Die kräftigen Zehen mit spitzen Krallen gestatten es der Wasseramsel, sich an glatten Steinen am Grund des Baches besser zu halten und sich auch kräftig abzustoßen. Alle diese anatomischen und morphologischen Anpassungen genügen aber noch nicht, um den Vogel beim Tauchen mühelos unter Wasser zu halten. Daher legt die Wasseramsel noch ein paar verhaltensmäßige Anpassungen an den Tag. Sie nutzt z.B. die Strömung aus. Mit nach unten geneigtem Kopf, schräg nach oben weisenden Rücken und Schwanz sowie mit etwas abgespreizten Flügeln stemmt sich die Wasseramsel gegen die Strömung und wird so auf den Boden gedrückt. Auf dem Wassergrund läuft der Vogel gegen die Strömung. Er braucht seine Körperhaltung nur etwas zu verändern und schießt dann wie ein Korken aus dem Wasser an dessen Oberfläche. Bis 1.5 m Tauchtiefe und bis 20 m Tauchstrecke wurden gemessen. Wasseramseln können an der Wasseroberfläche auch schwimmen. Dabei schwimmen sie mit erhobenem Kopf und nach oben gestellten Schwänzchen, oft läuft ihnen das Wasser über den Rücken. Aber schwimmend kommen die Wasseramseln nicht rasch voran, weil ihnen eben die Schwimmhäute zwischen den Zehen fehlen. Beim Schwimmen werden auf dem Wasser treibende Insekten aufgelesen. Vorbeifliegende Insekten können von einer Sitzwarte aus auch mit einem kurzen Flatterflug erhascht werden. Der Wasseramsel steht somit in ihrem Lebensraum Fließgewässer ein reiches Nahrungsangebot zur Verfügung, das ihr auch ermöglicht, sehr früh mit der Brut zu beginnen. Schon ab Februar, in der 143B2Regel ab März werden die 4-6 weißen Eier in das Nest in unmittelbarer Wassernähe abgelegt. Die Wasseramsel macht zwei Jahresbruten. Das Nest ist ein backofenförmiger, überdachter Bau mit einem Eingang, der auf das Wasser gerichtet ist. Es wird in Vertiefungen und Löchern zwischen den Steinen der Uferböschung, zwischen Baumwurzeln, in Fels- und Mauerlöchern, aber auch auf Brückenträgern angebracht.
In Bächen und Flüssen, an denen die Wasseramsel vorkommt oder zurückgekehrt, ist die Wasserqualität in Ordnung: Köcherfliegenlarven und die Larven anderer Fliegen als Beutetiere für die Wasseramsel kommen nur im sauberen, sauerstoffreichen Wasser vor. Insofern ist die Wasseramsel ein guter Bioindikator für die Wasserqualität. Wo Kläranlagen gebaut wurden und funktionieren, ist die Wasserqualität verbessert worden und die Wasseramsel zurückgekehrt wie beispielsweise an den Oberlauf der Etsch. Der Lebensraum der Wasseramsel ist linear eindimensional entlang des Bach- und Flussufers: Der Vogel verlässt die unmittelbare Nähe eines Gewässers nicht. Wasseramseln sind territorial: Die Pärchen verteidigen einen bestimmten Flussabschnitt gegen eindringende Artgenossen als ihre Jagdgebiet und Brutrevier.

Publiziert in Ausgabe 13/2019

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