Montag, 22 Juli 2019 12:26

Angela Lehner: Vater unser

Franz-Tumler-Literaturpreis: Die Nominierungen – Teil 2 - Mit der Protagonistin Eva Gruber ist der Autorin eine kraftvolle literarische Figur gelungen: Man hängt an ihren Lippen und ist ihr dicht auf den Fersen, wenn sie durch die Gänge der Psychiatrie eines Wiener Spitals schleicht oder die Pfade des riesigen Geländes durchkämmt. Sie wurde dort eingeliefert, einige Zeit vorher auch ihr jüngerer Bruder Bernhard. Eva zeichnet sich durch bissigen Schmäh aus, sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund und reißt das Ruder auch bei den Therapien gerne an sich. Einige Geschichten, die sie dem Psychiater Dr. Korb auftischt, lassen erlebte Einschnitte erahnen, sie erzählen von Ausbrüchen und s32 CoverLehnerVaterunserKurzschlusshandlungen, immer wieder ist es die Wut, die sie die Kontrolle verlieren ließ und lässt. Und doch nehme ich ihr ab, dass sie nur in der „Anstalt“ ist, um Bernhard nahe zu sein. Er leidet an einer Essstörung und weist Eva zunächst von sich. Sie waren lange Zeit getrennt, Eva will einiges wieder gut machen und seine Situation verbessern. Durch teils gemeine Tricks gelingt es ihr, sein Vertrauen wiederzugewinnen und ihn von einem Fluchtplan zu überzeugen. Von der Mutter, der lästigen Besucherin, erwartet sie sich nichts, den Vater möchte sie am liebsten umbringen, sieht sie doch in ihm das „unheilbare innere Geschwür“, das alle krank und die Familie kaputt gemacht hat. Tief in Eva eingeprägt hat sich auch ein katholischer Katalog an Gebeten und Bezügen, so ist der Titel „Vater unser“ mehrdeutig, ebenso die Kapiteleinteilung „Der Vater“, „Der Sohn“ und „Der Heilige Geist“.
Bevor sie mit Bernhard losziehen kann, muss er aber zu Kräften kommen. Eva legt sich ins Zeug, um ihn von Magensonden und Tubenernährung zu befreien. Sie wird ziemlich oft ausfällig, und ziemlich oft kann man sie verstehen. Bilderreich und mit originellen Vergleichen erzählt Eva ihren Aufenthalt, die Vorgeschichten und dann die Flucht und sie lässt geschickt Wahrheit und Lüge (oder eben eindeutige Wahrnehmung und Symptome der Persönlichkeitsstörung) ineinandergleiten. Den Anstaltsalltag karikiert sie, die Vergangenheit würgt sie und den Bruder will sie wieder lebendig machen, oder doch nicht? Na seawas, Eva, du machst es einem nicht leicht!
Maria Raffeiner

Publiziert in Ausgabe 15/2019

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