Mittwoch, 12 Dezember 2012 00:00

In jenen Tagen...

Die andere Weihnachtsgeschichte

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In jenen Tagen...
... erließ Bashar al-Asad, Präsident der Republik Syrien, den Befehl, alle Männer zwischen 18 und 30 Jahren in Listen eintragen zu lassen, um die Bekämpfung von Demonstrationen blutig niederzuschlagen. So zog auch Yousef von der Stadt Homs hinüber nach Damaskus, um wegen einer Krankheit um Freistellung zu bitten – erfolglos: Er sollte drei Wochen später einrücken.
In jener Zeit wurden täglich Bilder von Soldaten veröffentlicht, die ermordet worden waren, weil sie sich geweigert hatten, auf friedliche DemonstrantInnen zu schießen. Auch Yousef würde niemals auf jemanden schießen.
Einen Tag nach seiner Musterung ermordeten Soldaten einen Nachbarn. Yousefs schwangere Frau Maryam fand ihn und brach zusammen. Da zogen die beiden nach Damaskus, wo die Lage sicherer war. Sie wandten sich an mehrere EU-Botschaften, um Asyl zu beantragen, und erfuhren, dass man nachweisen müsse, dass die Gewalt des Staates sich gegen die eigene Person richte. Yousef fragte, wie man das nachweisen solle. Durch Folterspuren? Als toter Mensch? Er bekam keine Antwort. Außerdem könne man Asyl nur innerhalb der EU beantragen. Und ein Visum für die EU – das sei völlig unmöglich.
Yousef nahm an einer friedlichen Sitz-Demonstration teil, als Soldaten wahllos in die Menge schossen. Unter den Toten war Maryams Cousin. Maryam bekam Schmerzen und musste in eine Klinik. Dort lagen Menschen auf Notbetten in Gängen und im Keller. Ein Teil des Personals war aus Angst geflüchtet, weil es verboten war, verwundete Oppositionelle zu behandeln. Die Ärztin, die Maryam behandeln hätte sollen, wurde am Tag der Operation erschossen, weil sie eine verwundete Frau behandelt hatte. Yousef stellte die halbe Klinik auf den Kopf, um einen Arzt für Maryam zu finden: Sie überlebte, aber das Kind konnte nicht gerettet werden.
Yousef schickte Bewerbungen an verschiedene Firmen im Ausland, aber er bekam trotz seiner hohen Qualifikationen keine positive Antwort. Die beiden überlegten, in den Libanon zu flüchten. Aber es wurden immer mehr Fälle von Deserteuren bekannt, die auch in Jordanien und im Libanon vom syrischen Geheimdienst festgenommen und umgebracht wurden oder einfach verschwanden.
Der Irak war auch nicht sicher, und nach Israel dürfen SyrerInnen nicht einreisen. Als letzte Möglichkeit blieb die Türkei. Auf der türkischen Botschaft sagte man ihnen, dass sie nur einen Monat auf türkischem Staatsgebiet bleiben dürften. Und was dann?, fragte Yousef. Der Botschafter zuckte mit den Schultern.

Die Personen in dieser Geschichte sind erfunden, ihre Erlebnisse wahr.
Syrien ist kein Ausnahmefall: Neben Krieg zwingen Wüstenbildung, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen weltweit Millionen von Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Sie hatten nicht das Glück, in einem so fruchtbaren und ökologisch sicheren Land wie Südtirol geboren zu werden.
Europäische Gesellschaften und Konzerne sind mit an der Zerstörung der Lebensgrundlagen von Menschen beteiligt - durch die Lagerung von Giftmüll, das Leerfischen von Meeren und durch wirtschaftliche Abhängigkeiten, aus denen sich ärmere Staaten nicht befreien können. Auch Kriege sind ein lukratives Geschäft: Italien verkauft an vorderster Front Waffen.
Die wenigen Flüchtlinge, die es nach Europa schaffen, werden für illegal erklärt und von rechtspopulistischen Parteien als Kriminelle und SozialschmarotzerInnen dargestellt. Und viele Medien stellen die Situation so dar, als könnten sich EU-Länder vor „Flüchtlingsmassen“ nicht wehren.

Natürlich kann man Weihnachten als Geschichte sehen, die vor über 2000 Jahren passiert ist und wenig mit der heutigen Zeit zu tun hat.
Man könnte Weihnachten aber auch als Geschichte sehen, die immer aktuell ist. Das würde allerdings bedeuten, dass es nicht mehr so einfach wäre, die Herbergsbesitzer, die Josef und Maria vor die Tür gesetzt haben, als skrupellose bösartige Menschen darzustellen, im Gegensatz zu denen man selbst alles besser machen würde. Vielmehr wäre es vielleicht sogar so, dass man überlegen müsste, welche Rolle man als WählerIn oder EU-BürgerIn selbst spielt, wenn es darum geht, ob Menschen die Tür geöffnet wird oder nicht.
Nicht nur zu Weihnachten, sondern auch zu anderen Zeiten klopfen Menschen an Grenzen und werden nicht eingelassen. Sie haben Krieg, Folter, Vergewaltigungen oder Hunger erlebt und bezahlen Unsummen an kriminelle Schlepper, um mit geringen Überlebenschancen in eine bessere Welt zu kommen. Sie stellen Asylanträge und werden abgeschoben, u.U. auch, wenn sie mit einer EU-Bürgerin oder einem EU-Bürger verheiratet sind und gemeinsame Kinder haben. Und wenn sie es schaffen, einen legalen Status zu bekommen, müssen sie sich mit Rassismus auseinandersetzen, mit der nicht-Anerkennung ihrer Studientitel oder mit gesellschaftlichen Grenzen, die für sie geschaffen werden. Sie werden nicht als Menschen gesehen, sondern als eingeschränkt menschlich – als gleichförmige bedrohliche Masse, die moralisch schlecht, unterentwickelt und nicht so gebildet ist wie „wir“.
Mehr als 100 Millionen Euro hat die Europäische „Grenzschutzagentur“ Frontex jährlich zur Verfügung, um die EU-Außengrenzen zu „sichern“. Sie tut dies mit einer sehr eigenwilligen Interpretation von Menschen- oder Flüchtlingsrechten. Mit dieser Summe könnte man ziemlich viele gute Projekte starten, um Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Vielleicht macht es Sinn, bei der Weihnachtsgeschichte noch einmal über die Rolle der Herbergsbesitzer nachzudenken und darüber, wie viel man mit ihnen gemeinsam haben möchte oder auch nicht.

Publiziert in Ausgabe 25/2012

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