Vielleicht haben Sie sich auch schon darüber gewundert, warum in einigen Ortschaften des Vinschgaues Wege oder Straßen mit dem Namen „Kugelgasse“ anzutreffen sind, aber niemand mehr weiß, woher die Bezeichnung kommt und womit sie zu tun hat. Dieser Frage hat auch Wilhelm Oberegelsbacher aus Kortsch versucht nachzugehen, und hat dazu im „Schlern“ des Jahres 1951 einen Aufsatz veröffentlicht. Ich finde diesen Bericht interessant genug, um ihn hier im Wortlaut noch einmal vorzustellen (Text siehe gegenüberliegende Seite). Darin verweist der Autor auf einen früheren, ebenfalls im „Schlern“ abgedruckten Beitrag von Josef Schgör aus Schlanders, der sich an ein mittlerweile vergessenes Spiel erinnert, an dem sein Vater noch teilgenommen hatte. Das sogenannte „Kolbenschlagen“ oder „Kolbnen“, das angeblich bis zum Jahr 1885 in Taufers noch gespielt wurde, erfreute sich damals größter Beliebtheit, wobei es unterhaltsam und lautstark zuging, manchmal auch darüber hinaus, sodass sich Lehrerschaft und Pfarrer zum Einschreiten veranlasst sahen. Bei dieser Unterhaltung handelte es sich um eine Art Golfspiel, bei dem zwei konkurrierende Gruppen, ausgerüstet mit hölzernen Schlägern, eine faustgroße Kugel durch die Gegend zu schleudern versuchten. Über dieses Spiel berichtet auch Josef Pardeller aus Stilfs (Schlern 1947), der auf eine Eintragung im Stilfser Dorfbuch aus dem Jahre 1555 verweist, worin ein Verbot ausgesprochen wird, auf Wiesen zu „khegeln“, so lange das Vieh die Weiderechte dort beansprucht. Damit ist jedoch nicht das uns noch bekannte Kegeln gemeint, sondern ein Geländespiel namens „Kolbnen“ (Kolben = Schläger, Schlagholz). Scheinbar dasselbe Spiel mit der Bezeichnung „Kolven“ wurde in den Niederlanden und Flandern des 14. und 15. Jahrhunderts gespielt. In Italien waren ähnliche Spiele namens „cambuca“ oder „paganica“ bekannt, die schon im alten Rom praktiziert wurden. Gespielt wurde bei uns nur im Frühjahr, sobald die Wiesen schneefrei und das frische Gras noch kaum ausgetrieben hatte, oder im Herbst. Von Pinggàra gings hinaus zum Kâtzenpichl, wobei teils gewaltige Hindernisse zu überwinden waren, und von dort wieder zurück. Jene Gruppe, welche ihre Kugel mit so wenig wie möglichen Schlägen hin und retour befördern, und zum Schluss noch das Loch im Boden bei Pinggàra zu belegen vermochte, errang den ausgesetzten Preis.
Nun ist es leicht vorzustellen, dass Ober-egelsbacher mit seiner Vermutung, die Kugelgassen seien dörfliche Spielstätten gewesen, durchaus Recht hatte. Es gibt auch keine anderen, nachvollziehbare und sinnvolle Erklärungen für diesen Namen. In den Kugelgassen wurde jedoch nicht dieses oben beschriebene Kolbnen gespielt, sondern andere Formen, ähnlich der heute noch betriebenen Boccia-Spiele, - französisch Boule oder Petanque. Kugelspiele zählen zu den ältesten, auch archäologisch nachweisbaren Unterhaltungen. Auf Schloss Tirol wurden Kugeln aus Ton ausgegraben, mit denen im 13./14. Jahrhundert gespielt wurde. Im Südtiroler Unterland war das „Wotschelen“ (bočelen) bis in die 1960 Jahre ähnlich beliebt wie das Kartenspiel, und auf den Wiesen der Mendel und des Fennberges wird noch immer fröhlich weitergekugelt. Unseren damaligen Spielformen am ehesten verwandt ist das französische Boule (Kugel), das sowohl auf einem dafür vorgesehenen Platz gespielt wird, aber auch querfeldein, auf Wiesen, Wegen, Flussufern usw. Den Spielern ist jedes Gelände recht, sofern es halbwegs flach und nicht befestigt ist, - das ja auch bei den Vinschgauer Kugelgassen genauso der Fall war.
Vielleicht ist es einer gewissen „Neuerungsverweigerung“ der Vinschger zu verdanken, weshalb der Name Kugelgasse sich in einigen Gemeinden des Tales erhalten hat, während anderenorts davon nichts mehr zu hören ist. Wir können aber davon ausgehen, dass es in vielen Ortschaften einen Weg solchen Namens gegeben hatte. Als Beispiel möchte ich die Stadt Innsbruck erwähnen, wo bis ins 18. Jahrhundert ein „Kuglgässchen“ bekannt war, das im Jahr 1464 erstmals schriftlich erwähnt, schließlich umbenannt wurde und dann in Vergessenheit geriet. Dieser Weg befand sich außerhalb der Stadtmauer, gesäumt von Gärten und Anger. Im italienischen Kulturraum findet man viele Unterscheidungen dieses Namens, wie etwa „Via Boccia, Via delle Bocce, Via delle Boccie, Via della Palla, Vicolo delle Palle, oder Vicolo delle Palline“, wobei Bocce und Palle nicht dasselbe sind. Vom 14. bis ins 17. Jahrhundert scheinen die verschiedenen Ball- oder Kugelspiele eine weite Verbreitung, und als Modespiele große Beliebtheit erreicht zu haben, ähnlich des heutigen Fußballspieles, wo es auch kaum keine Ortschaft ohne eigenen Fußballplatz gibt.
Als Glücksspiel und Unterhaltung, aber auch als Metapher des Schicksalhaften oder Unvorhergesehenen, spielen Kugeln seit jeher eine besondere Rolle. Das Bild der rollenden Kugeln vermag den glücklichen oder verhängnisvollen Lauf der Dinge nach- oder vorzuzeichnen (solange die Kugel rollt, ist nichts entschieden, aber dann: rien ne va plus). Eine vergeistigte Version des „Kugelspieles“ hat Nikolaus von Kues mit seinem Dialogus De Ludo Globi, hinterlassen, als er 1463 anhand einer von ihm erfundenen „erbaulichen Meditation“, unter Mithilfe einer präparierten Kugel, uns die Bedeutung Gottes, der Schöpfung und der Stellung des Menschen darin zu veranschaulichen versucht (Landesausstellung 2000 Brixen, Hofburg).
Man sollte sich aber vor Augen halten, dass von Seiten der Kirche alle Spielarten, inklusive des Musizierens und Tanzens nicht nur ungern gesehen, sondern oft der Gotteslästerung gleichgesetzt und bekämpft wurden. Dementsprechend haben sich auch die historischen Aufzeichnungen, zumindest in unseren Gegenden bis heute nicht um die Spiele des Volkes (gioco paganico) gekümmert, weshalb wir auch über keine entsprechenden Nachrichten verfügen.
Die Spielereien in den Gassen sind verschwunden, ja selbst die Erinnerung daran ist verloren. Es ist auch kaum mehr vorstellbar, dass Gemeindewege oder Straßen als Spielplätze gebraucht werden könnten. Immerhin, das Kugelspiel in dieser Form, betrieben auf öffentlichem Platz, ohne Abgrenzung, ohne Gitter und Zäune, ohne Eintrittstor, gibt einen sehr interessanten Hinweis auf etwas anderes: Mit selbstgemachten Regeln, selbstorganisiert, selbstverwaltet, ohne Statuten und ohne Struktur, wird hier die Auflehnung gegen Bevormundung und Unterdrückung in Szene gesetzt, und uns an eine real lebbare Anarchie erinnert , - wenn auch nur in spielerischer Weise.
Erich Kofler Fuchsberg
Kugelweg – Kugelgasse
Zu den sehr alten Wegnamen unserer Heimat, die teilweise vom Volke schon vergessen oder geändert worden sind und deren Deutung bereits schwierig geworden ist, gehört wohl auch Kugelweg-Kugelgasse. Urkundlich erwähnt werden die unten aufgezählten Wege in: Hofnamen des Landesgerichtes Schlanders, Hofnamen des Landesgerichtes Kastelbell (beide von Dr. Richard Staffler), Hofnamen des Burggrafenamtes (J. Tarneller), sowie in den Urbaren der Stifte Marienberg und
Münster {Ausg. P. Basil Schwitzer). Die älteste Erwähnung dieses Namens in diesem Gebiete dürfte jene vom Jahre 1317 (Marienberger Urbar) sein: Hainrich Kugelweger, praepositus in Mais. Im Urbar des Frauenstiftes Münster von 1394 steht: « bonum Chunczonis dicti Kigelwegers » Ob Kigel hier alte Mehrzahlform von Kugel oder nur Fehlschreibung ist? Sicher ist die Entstehung dieser Namen viel früher vor sich gegangen.
Nach Begehung und genauer Besichtigung der unten angeführten Kugelwege wurden für diese folgende gemeinsame Merkmale gefunden:
1. alle liegen eben oder fast eben, kleine Unebenheiten können leicht von teilweisen Übermurungen herrühren.
2. alle führen fast geradeaus oder haben nur wenige und nie scharfe Biegungen.
3. alle sind abseits vom Hauptwege der Ortschaft, oder am Rande oder gar außerhalb derselben.
4. Pflasterung ist auf diesen Wegen keine oder nur in kurzen Stücken zu sehen; diese ist aber, nach Arbeit und Zustand zu schließen, nicht alt.
Diese Eigenschaften verleiten zu einem naheliegenden Deutungsversuch des Namens, zumal, wenn man weiß, wie gerne einst die Jungmannschaft unseres Volkes vor dem Aufkommen der neuen Sportarten und Vergnügungen an Feierabenden und Feiertagen das Kegelspiel betrieben hat und in abgelegenen Orten noch betreibt. Das im Schlern 1947, S. 219, von Dr. Schgör für Taufers im Münstertal beschriebene Kolbenschlagen wird auch andernorts so oder ähnlich getrieben worden sein; oder das «Watscheln» - wir Schulbuben taten es mit kleinen Steinplatten -, wozu man ja nur Wege mit den aufgezeigten Eigenschaften benützen konnte und wobei man vom Verkehr möglichst ungestört sein wollte. Sofern ein solcher Weg noch keinen allgemeinen Namen hatte, wurde er auf Grund dieses in seiner ursprünglichen Form jetzt wohl nicht mehr bekannten Kugelspieles je nach seiner Beschaffenheit Kugelweg oder Kugelgasse benannt. Gewiß ist das noch geübte «Speckern» der Schuljugend Nachahmung und vielleicht bald Ausklang jenes einstigen Kugelspieles der Großen.
Außer den hier angeführten Kugelwegen gibt es solche sehr wahrscheinlich auch noch in anderen Orten, kaum aber in Bergdörfern an Talhängen oder im alten, engen Teile unserer Städte.
G1urns - außerhalb der Stadt, vom einstigen Tauferer Tor links talabwärts, entlang der südlichen Stadtmauer.
Laas - am rechten Etschufer von der Brücke talaufwärts mit Richtung gegen Bad Schgums.
Schlanders - beim Gasthaus zur Rose vom Hauptplatze weg südlich gegen Steinberger (Sandhof) und früher wohl weiter bis Urtl und von dort in die Felder hinaus.
Latsch - beim Gasthaus zum Rößl von der Hauptstraße weg gegen Süden und dann gegen Westen am Südende der Ortschaft entlang.
Ga1saun - vom Dorfe ab gegen Südosten, bis zum Steinkellerhof, in dessen Südmauer in Höhe des ersten Stockwerkes eine ziemlich große Steinkugel eingemauert ist, und sicher ehemals, die «ganz alte Landstraße» überquerend, weiter in die Wiesen hinaus.
Partschins - vom Ansitz Spauregg weg östlich gegen den Töllgraben, außerhalb der Ortschaft.
Obermais - Name verschwunden. Nach einem alten Plan von Mais wahrscheinlich der untere Teil der heutigen Fluggigasse mit Fortsetzung im heutigen Schillerpark.
Untermais - Name verschwunden. Nach den Urkunden gegen den Hagen hinaus, beim Schöberlegut vorbei.
Tisens - von der Ortschaft weg nord-östlich gegen die Vorbichl hinaus.
Mag. pharm. Wilhelm Oberegelsbacher
(Nachtrag: Im Oberinntal gibt es Kugelgassen in Prutz, Imst und Roppen, in Naturns wurde erst in den 1960er Jahren ein Weg zur Kugelgasse, hier aber in Erinnerung an das weit verbreitete Sagenmotiv eines „Goldenen Kegelspieles“, in Zusammenhang mit dem nahegelegenen Hof Martschein)
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