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Bauen bedeutet nicht nur planen, sondern auch wirtschaftliche, ökologische und gestalterische Fragen für sich und für die ganze Gemeinde miteinzubeziehen. Bauen ist mehr als nur Baggern, Planieren, Mauern, Fließen, Strom- und Wasserleitungen legen ... Denn sobald der typische Charakter eines Ortes verloren geht, sinkt die Lebensqualität. Bauen ist soziale Verantwortung.

Immer, wenn ich mich einem Dorf nähere, lockt es mit etwas ganz Eigenem, lächelt mir zu. Ich erlebe Räume und Dörfer wie Menschen, die ihren Charakter besitzen. Tschengls ist so ein Dorf, das mich neugierig macht, weil es sich anmutig und friedlich an den Berghang schmiegt, mit der langen Turmspitze winkend, und mit seinen dicht aneinander stehenden, verschachtelten Häusern und Gärten, steilen Gassen und hohen Steinmauern auf mich zu warten scheint.
Von Prad zu Fuß den steilen Weg hinaufwandernd ist es ein Dorf wie im Bilderbuch. Sonntagmittag, die Sonne scheint, es kräht der Hahn, die Glocken läuten und das Dorfwappen am Dorfrand begrüßt mich, ein gelber Stern auf schwarzem Grund inmitten zweier Burgzinnen. Weiter oben geht’s zur Tschenglsburg. Diese sitzt wie die Kirche auf der anderen Dorfseite, gegenüber der kantigen Felsschlucht, wo sich die ausgelassenen Wasser bewegen und der Weg zu den Almen beginnt. Hier gibt es noch Schafe, Ziegen und Hochlandrinder und eine unverwechselbar vielfältige Landschaft mit Marillen-, Palabirnenbäumen, Wiesen, Hecken, Sträuchern und Beeren ..., noch eine bunte, lebendige und geborgene Welt. Hier hat die Natur noch etwas zu sagen, hier sind Pflanzen, Tiere und Menschen halbwegs ebenbürtig.
Von Eyrs aus die Auffahrt nehmend, ist es ein Dorf für Autofahrer, zerstreut und unruhig. Nur schnell an der Kirche mit ihren schräg planierten Parkebenen und grobmaschig überzogenen „Plastikteppichen“ vorbei, die Angst und Einsamkeit erzeugen, Angst vor dem Abrollen und Runterrutschen. Gottverlassen, allein auf weiter Flur, ausgestorben, spürt man sich hier. Auf wen wartet die Kirche, auf Menschen oder auf Autos? Schnell über die zu breit angelegte Straße zur Brücke mit dem Wehrtor, zum leerstehenden Gasthaus auf die andere Bachseite, auf die andere Dorfseite, dort fühle ich mich wohl und sicher.
Mehrere Wehrtore und ein langer     schmaler Kanal mit seinen wuchtigen, maßlos übertriebenen Mauern spaltet das Dorf in zwei Teile, eigentlich müsste man sagen, zerhackt den Ort und schlägt ihn entzwei. Beim Anblick der verbauten Wasserstrecke fällt mir ein: Zwietracht säen, uneins machen, sich gegenseitig fremd werden, das ist das sichtbare und unsichtbare Ergebnis dieser Verbauung, einer technokratischen Entscheidung ohne Rücksicht auf die Dorfgemeinschaft. Wenn man auf der Gedenktafel dann noch liest, dass die Seelsorger sich für die Errichtung dieser Befestigungsanlage besonders bemüht haben, ist mir eine derartige Haltung umso unverständlicher. Diese Verbauung eines scheinbar „wilden“ Wassers einschließlich der weiten überdimensionalen Parkplätze und der zu breit angelegten Straßen nahm den Dorfbewohnern alles was sie verband und zusammenhielt, nahmen ihnen ihre Kommunikation.
Warum ausgerechnet in Tschengls ein derart massiver Eingriff stattfand, ist mir ein Rätsel, wo doch das Nachbardorf Lichtenberg traurigere Geschichte schreibt, während die Bewohner in Tschengls bis auf einige verendete Tiere (zwei Kühe und einige Schafe) seit den 70er Jahren immer verschont blieben? Nur weil zwei Kühe nach dem Bau des bewährten Auffangbeckens den Tod fanden, trennt die Wildbachverbauung das Dorf und nimmt ihm das gegenseitige Miteinander, die Gemeinsamkeit und die Verbundenheit?
Wenn das Land nicht einmal weiß, wie man behutsam und naturnah reguliert, dass man auch manchmal Eingriffe unterlässt anstatt massiv und kompliziert einzugreifen, wie soll man von den Dorfbewohnern erwarten, dass sie sich der starken Veränderungen und Konsequenzen für den Alltag bewusst werden, wenn über ihre Köpfe hinweg in technokratischer high-tech Manier (ohne low-tech Überlegungen anzustellen) entschieden wird?
Jetzt sitzt Tschengls auf einem Bollwerk an Mauern, auf einem Wall, jetzt verschanzt sich der eine Teil des Dorfes hinter Stahltoren, hetzt die eine Dorfseite gegen die andere, verteidigt die Befestigung seine Bewohner in hauptmännischer Manier gegen man weiß nicht was, und ist zufrieden oder soll zufrieden sein?
Bauen bedeutet nicht nur zweckgebundene Planung sondern beinhaltet auch soziale, ökonomische, ökologische und gestalterische Fragestellungen für den Bauherren und für die ganze Gemeinde. Tschengls ist ein Beispiel für analytisch zerlegendes, zweckgebundenes Denken ohne Rücksicht auf andere hochsensible Gegebenheiten. Bauen ist mehr als nur Baggern, Mauern, Fliesen, Strom- und Wasserleitungen legen ... Denn sobald der typische Charakter eines Ortes verloren geht, sinkt die Lebensqualität. Bauen ist soziale Verantwortung.
Anmutige Altbestände verlottern und verfallen, Neubauten entstehen ohne Zusammenhang und ohne Bezug zur Dorfgemeinschaft. Weit entfernt vom Zentrum im Hang stehen Sportplatz mit Wochenstundenpraxen für Ärzte und Musikverein.
Warum ordiniert der Arzt nicht im leerstehenden Gasthaus, probt der Musikverein nicht in einem dieser alten imposanten Dorfstadel und belebt damit die Dorfgemeinschaft? Warum werden so wichtige Synergien zerstört und nicht erhalten? Warum (ent)stehen weit vom Dorfrand entfernt Industrie- und Handwerkszone, ohne zu überlegen, ob einzelne Betriebe nicht besser in das Dorf integriert werden könnten. Zahlreiche Beispiele dafür gibt es im Nachbarland Vorarlberg und der Schweiz.
Eine alte „Hütte“ renovieren bedeutet mehr als nur Bauen. Ein altes Haus renovieren bedeutet Auseinandersetzung mit sich selbst. Altbestand renovieren heißt, auf die Vorfahren eingehen und aus dem Erbe der Ahnen (kein Erbe ist nur angenehm und manchmal ist es auch schwer annehmbar) etwas Gemeinsames, etwas Wertvolleres schaffen. Klar gibt es Probleme mit Isolierung, Trockenlegung, Raumeinteilung und mit Mauerbefestigung, doch das sind Probleme, an denen der Einzelne wachsen kann, die Sinn machen. Wenn ich jedoch alles niederreiße, dann gehen Wärme und Charme verloren, es geht ein Stück meiner Kultur und der Baukultur des Dorfes verloren. Übrig bleibt nur meine Fantasielosigkeit und Bequemlichkeit. Der Betrachter des neuen Hauses weiß, wie es um mich bestellt ist.

Frieda B. Seissl
wirft den Blick einer Fremden auf den Vinschgau
*Zum Titel: Aussage Heraklits: „Der Charakter der Menschen ist ihr Schicksal.“

Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau

Publiziert in Ausgabe 18/2011

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