Dienstag, 25 Juni 2019 12:40

Kultur: Sigmundskron 1957

Schlanders/Latsch/Mals - Uns Maturanten vom Wissenschaftlichen Lyzeum Brixen wurde von der Schuldirektion mitgeteilt, dass eine für Südtirol wichtige politische Demonstration auf dem Schloss Sigmundskron stattfinden wird und dass wir uns daran beteiligen sollten; für die Fahrt nach Bozen würde gesorgt. So erreichten wir das Gelände am Fuße des Schlosshügels, wo neben den immer zahlreicher werdenden Demonstranten bewaffnete, hinter Buschwerk verborgene Polizei wartete. Wußten wir, worauf wir uns da eingelassen hatten? Wir strömten zusammen mit den meist männlichen Teilnehmern der Demonstration aufwärts und suchten einen Platz im großen Schlosshof.
Dass der italienische Staat die Rechte der Südtiroler in sträflicher Weise ignorierte und die faschistische Italianisierungspolitik fortsetzte, das war uns gesagt worden. Mit dieser Anklage standen wir also da und warteten auf das, was auf uns zukommen würde. Der riesige Schlossplatz füllte sich immer mehr und mehr, schon wurden die Außenmauern des Schlosses erklommen, sogar das Geäst der wenigen Bäume. Dann hörten wir die ersten Rufer von der ungewöhnlichen Kanzel, eine Stimme aus dem Sarntal, die lautstark die Pusterer begrüßte und die Unterlandler. Es war wie im Hochgebirge, wenn sich Wanderer über große Abstände begrüßten oder zujauchzten. Oder es war vielmehr so, wie bei einem großen Opernevent. Das Schauspiel, auf das wir warteten, war kein Spiel, keine Befreiungsoper „Aida“ in der Arena von Verona, es war der Hilferuf einer verzweifelten Minderheit.
„Volk in Not“, „Schluss mit der Knute“, „Los von Trient“. Verschiedene Vorredner versuchten den Zweck der Demonstration zu erklären, machten soziopolitische Analysen, aber erst Magnago vermochte das Publikum zu bannen. Erst seine Argumente - kurz und beschwörend formuliert - erzeugten Stimmung und gespannte Ruhe. Der ehemalige Offizier der Deutschen Wehrmacht, im Krieg verwundet und seitdem Invalide, weiß sein Publikum richtig zu lenken. Nicht mit Argumenten zu überladen, immer im Hörkontakt mit den Zuhörern, wie ein echter Schauspieler, für den die Stimmung wächst und sich wieder verliert. Es ist, als würden bestimmte Wörter Akkorde der Zustimmung oder Empörung auslösen. Das Publikum schwebt in Erwartung. Dabei wird erwähnt, dass die Demonstration für den Bozner Waltherplatz geplant war, dass der Regierungskommissar dies aber nicht erlaubt habe und erst nach Magnagos Versprechen, keine weiteren Demonstrationen folgen zu lassen, die Erlaubnis erteilte. „Ich habe ihm mein deutsches Wort gegeben!“, so wird ­Magnagos Versprechen überliefert.
Der Landeshauptmann, die Volkspartei, alle mussten die Machtlosigkeit der Südtiroler zur Kenntnis nehmen. Dabei rumorte es wie in einem Ameisenhaufen. Ein leiser Wink und die Massen wären bereit gewesen, sich wie ein Lavastrom in Richtung Bozen zu wälzen. Es wimmelte von gewaltbereiten Rebellen, die teilweise sogar bewaffnet waren. Was bewegte die aus allen Ecken des Landes herbeigeströmten Menschen, die jetzt alle Wege verstellten, sodass selbst der Landeshauptmann kaum Zugang finden konnte? Ein Durchkommen mit dem Auto war unmöglich. So musste der einbeinige Invalide auf ein Motorrad gesetzt und durch die Menge gezwängt werden, damit er das Rednerpult erreichen konnte.
Und dann sprach er zu den Bürgern und Bauern, zu den Invaliden, die seit Jahren auf ihre Rente warteten, er sprach alle Sorgen an und erklärte die Sprüche auf den Schautafeln „Volk in Not“, „Los von Trient“ und „Todesmarsch“. Der Redner schwamm auf dem wogenden Gemurmel des Unmuts, unterbrochen nur von den anklagenden Rufen der „vox populi“, die sich gegen die Vorredner durchsetzen wollten. Mit der Forderung nach Selbstbestimmung - in den Statuten der Volkspartei von 1945 ausdrücklich verankert - hatte man vergeblich auf internationale Unterstützung gehofft.
Ähnlich große Kundgebungen hat es bereits früher gegeben, so bereits 1920 auf dem Grödner Joch für die Einheit der ladinischen Täler. Aber hier und jetzt ging es um das politische Ziel „Los von Trient“, festgehalten im Art. 14 des Statutes. Das heißt, alle politischen und wirtschaftlichen Kompetenzen können auf die Provinz übertragen werden. Die Autonomie bedeutet gesetzgeberische Zuständigkeit.
Südtiroler Anliegen wurden aber in Trient meist überstimmt. Also gab es nur eine leidvolle Serie von abgewiesenen Initiativen. Die vorgeschlagenen Gesetze mussten nämlich von der Regionalregierung gutgeheißen werden; dort waren aber die Südtiroler in der Minderheit. Die Verbindung mit dem mehrheitlich italienischsprachigen Trentino wirkte wie ein Hemmschuh.
Dagegen wandte sich der aus Göflan stammende Hans Dietl energisch. Er setzte das „Los von Trient“ gegen den Widerstand der Trentiner und vieler Südtiroler Parteigenossen durch. Am 9. Mai 1955 trat Hans Dietl aus der Regionalregierung aus und bewirkte dadurch die so folgenreiche Regierungskrise. Er ist aber auch ein Vordenker, was das Zusammenleben der Volksgruppen betrifft. Er hat mit viel Arbeitseinsatz und finanziellen Opfern (und wenig Gegenliebe durch die Partei) eine italienischsprachige Zeitschrift „Realtà Sudtirolese“ herausgebracht, in der den Italienern erstmals die Vorteile der Autonomie für alle erklärt werden konnten.
Arbeitsminister Togni kündigt der Stadt Bozen in einem Telegramm vom 15. Oktober 1957 die Errichtung eines neuen Stadtteils mit 5000 Wohnungen an; dies ist der Auslöser der Großkundgebung auf Sigmundskron.
„Volk in Not“ verkündet eines der mitgeführten Plakate. Das alles geschieht vor der Feuernacht des Jahres 1961, wo vom 11. auf den 12. Juni in der Herz-Jesu-Nacht 37 Strommasten gesprengt wurden; das war der Höhepunkt der Anschläge des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS).
Die große Burganlage Sigmundskron hat eine bewegte Geschichte. Im 12. Jahrhundert wurde Formigar (Formian, ­Firmian) ausgebaut; aus dieser Zeit stammen die Ruinen der Hochburg. 1473 kaufte sie der Erzherzog Siegmund von den Herren Firmian und baute sie festungsartig als Bollwerk gegen Venedig aus. Erhalten hat sich aus jener Zeit der sogenannte Weiße Turm, der jetzt ein zeitgeschichtliches Museum beherbergt.
„Und dann ist uns die Luft ausgegangen“, das sagte mir ein Zeitzeuge, der 1957 in Sigmundskron dabei gewesen ist und zum Dreinschlagen entschlossen war. Was soll das heißen, „dann ist uns die Luft ausgegangen?“ Die Erklärung war ganz einfach. Sowie wir hörten, dass Magnago der Behörde sein „deutsches Wort“ gegeben habe, war für uns klar, dass es keinen Marsch auf Bozen geben werde. „Es war, als hätte man mit einer Nadel in einen Luftballon gestochen.“ Die Luft entwich, der Druck fiel auf Null.
silvius magnagoDer Marsch auf Bozen hätte natürlich viel Zerstörung gebracht, zerbrochene Schaufenster, Autofenster, vielleicht geschändete Denkmäler, blutige Köpfe, wahrscheinlich auch Tote.
Der ehemalige Offizier der Deutschen Wehrmacht hat eine Schlacht gewonnen - nicht seine letzte! - hat das Schlachten verhindert und hat dadurch die Voraussetzungen geschaffen, um mit den politischen Gegnern, vor allem mit den ­Trentinern, sinnvoll verhandeln zu können.
Die Opernaufführung ist zu Ende. Die gewaltige Felsbühne mit den Kulissen aus Porphyr ... Aida, die äthiopische Sklavin und Königstocher ist hin- und hergerissen. Sind wir in italienischer Sklaverei? Hätte man in Sigmundskron mit den 35.000 Tausend Teilnehmern Verdis Chor der Gefangenen gesungen ... man hätte ihn vielleicht bis nach Rom gehört.
Überhaupt ist das Greifen der Autonomie, die echte Selbständigkeit, wie eine wunderbare Vermehrung vieler Bereiche, die jahrzehntelang verkümmerten.
Zu den auffälligsten Veränderungen zählt das Schrifttum. Italienische Historiker beschreiben in Darstellungen unseres Landes die Geschichte erstmals objektiv und vor allem ­liebevoll.
Hans Wielander

Publiziert in Ausgabe 13/2019

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