Unsere Welt wird nach Corona nicht mehr dieselbe sein. Stehen wir deshalb vor einer Zeitenwende, einer epochalen Neuorientierung? Werden wir in Zukunft anders arbeiten, weniger reisen, bewusster konsumieren und nachhaltiger produzieren, uns auf das Wesentliche konzentrieren? Wird unser Umgang mit der Natur ökologischer, unser Umgang mit den Mitmenschen solidarischer und das Zusammenleben zwischen den Völkern friedlicher? Entstehen ein globales Bewusstsein und eine weltweite Kooperation? Oder wird alles schlimmer, chaotischer, noch egoistischer und nationalistischer? Kommt es zu Firmenzusammenbrüchen, Arbeitslosigkeit, noch mehr Gewalt in der Familie, autoritären Regimen, zum Überwachungsstaat? Was können wir der Generation Corona vererben, außer eine beschädigte Welt, die Klima Krise und die Corona Schulden? Vielleicht war alles nur eine kurze Zwischenepisode und nach Lockdown (Ausgangssperre) und Shutdown (Stillegung und Schließung von Betrieben) geht alles wieder gleich weiter, nur noch schneller, höher, weiter? Die ersten zwei Jahrzehnte im 21. Jahrhundert sind geprägt von fünf großen Krisen: der Terrorismus islamischer Fundamentalisten, ausgelöst durch den Angriff auf das Wold Trate Center am 11.09.2001, die Finanzkrise 2008, die Flüchtlingskrise 2015, die Klimakrise, ins globale Bewusstsein gerückt durch die Jugendbewegung Fridays for Future im Jahre 2019 und die Coronakrise 2020. Ob diese ganzen Krisen zu grundlegenden Änderungen, einer Wende in der Wahrnehmung und im Handeln führen, wird man erst in einigen Jahrzehnten sagen können. Ganz sicher wurde die Fragilität (Zerbrechlichkeit) und Vulnerabilität (Verletzbarkeit) der Erde und unserer Gesellschaft aufgezeigt und unser Glaube, dass wir in einer sicheren Welt leben tiefgreifend erschüttert. Veränderungen hat es im Laufe der Geschichte immer gegeben. Durch Kriege, Eroberungen, Entdeckungen, Revolutionen, Klimaänderungen, neue Bewegungen, neue Ideen. Einige Wissenschaftler behaupten, dass die Zeit der Pest im Mittelalter und das Erlebnis des massenhaften Sterbens zu einer stärkeren Hinwendung auf das Diesseits und die Genüsse des Alltags geführt und damit die Zeit der Renaissance eingeleitet wurde. Die Kriege und die vielen Toten und Verletzten nach dem Zweiten Weltkrieg haben zum Zusammenwachsen der europäischen Staaten und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und zur Einführung von Sozialgesetzen geführt. In der Coronakrise wurden plötzlich Videokonferenzen durchgeführt, Homeoffice und Homeschooling praktiziert. Die Digitalisierung, von der bereits vorher alle gesprochen haben, hat einen gewaltigen Schub erfahren und möglicherweise wird einiges auch nach Corona erhalten bleiben. Die Globalisierung und das billige Produzieren in China und anderen Billiglohnländern haben Abhängigkeiten aufgezeigt, die möglicherweise eine Trendumkehr hin zu mehr Regionalismus, zu lokalen Kreisläufen verstärken. Bereits durch die Klimakrise wurde klar, dass globale Krisen nicht vor nationalen Grenzen Halt machen und deshalb nur international gelöst werden können. Corona hat deutlich gemacht, dass es eine globale Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Regierungen braucht, um solchen Herausforderungen wirksam zu begegnen.
Wendezeit – Bausteine für ein neues Weltbild
Vor fast 40 Jahren, im Jahre 1983, veröffentlichte Fritjof Capra das Buch „Wendezeit – Bausteine für ein neues Weltbild“. Fritjof Capra, geboren 1939 in Wien, ist ein österreichisch-amerikanischer Physiker, Systemtheoretiker, Philosoph, Managementtrainer und Autor. Bereits mit seinem Buch „Das Tao der Physik“ aus dem Jahre 1975, versucht er, mit einem ganzheitlich-systemischen Ansatz, eine Verbindung zwischen östlicher Mystik und moderner Physik herzustellen. Besonders durch sein Buch „Wendezeit“ wurde er zu einem Hauptvertreter der „New-Age-Bewegung“ und des sogenannten „Wassermannzeitalters“. Wendezeit wurde zu einem Kultbuch. Eine Zeitenwende, d.h. ein Wandel in der Wahrnehmung, hat demnach laut Capra bereits vor 40 Jahren begonnen, allerdings vor allem innerhalb der akademischen Welt. Durch sein Buch verkündete Capra einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft. Das bis dahin geltende mechanistische, von Newton und Descartes geprägte Weltbild sei überholt und werde durch ein neues holistisch-systemtheoretisches und ökologisches Paradigma abgelöst. Das neue Paradigma hat eine ganzheitlich spirituelle Dimension und wird nach Capra die Gesellschaft grundlegend verändern. Capra kritisierte die mechanistisch-reduktionistische analytische Weltsicht, die Ausbeutung der Frauen und der Natur und die starke Fragmentierung der akademischen Disziplinen. „Das Universum wird nicht mehr als Maschine betrachtet, die aus einer Vielzahl von Objekten besteht, sondern muss als ein unteilbares, dynamisches Ganzes beschrieben werden, dessen Teile auf ganz wesentliche Weise in Wechselbeziehung stehen und nur als Struktur eines Vorgangs von kosmischen Dimensionen verstanden werden können“. Durch das Weltbild der modernen Physik wurden die alten Begriffe von Raum und Zeit neu definiert. Capra kam durch seine Vorstellungen zu einer ganzheitlichen Medizin, einem neuen Menschenbild, einer Neubewertung der Wirtschaftswissenschaften und der Sozialwissenschaften.
Alles könnte anders sein – Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen
Der bekannte deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer hat 2019 das Buch „Alles könnte anders sein – Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ veröffentlicht. Es ist eine von vielen Gesellschaftsutopien, die es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben hat. Am 27. März sollte Harald Welzer bei den Marienberger Klausurgesprächen zum Thema: „Utopischer Realismus. Zukunftsbilder für das 21. Jahrhundert“ referieren. Corona hat dies verhindert. Die Marienberger Klausurgespräche mussten verschoben werden. Sein Buch hat durch die Coronakrise an Aktualität gewonnen. Vielleicht muss sogar in Zukunft vieles anders werden. Nach Welser leben wir in einer ambivalenten Moderne: einerseits gibt es große Fortschritte, anderseits Entwicklungen, die nicht fortsetzbar sind, weil sie das Klima, die Biosphäre und die Meere zerstören. Deshalb müssen wir alles verändern, damit vieles bleiben kann. Es geht darum die grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Gemeinwohlwerte wie Menschenwürde, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Frieden und Freiheit müssen weltweit stärker garantiert werden. Es braucht eine Agrar-, Energie- und Verkehrswende, die Förderung regionaler Kreisläufe und den Aufbau funktionierender Infrastrukturen. Nach Welzer muss eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen auf Verschiedenheit setzen und auf Konsenzfähigkeit trotz der Unterschiede. Wichtig ist die Förderung des ehrenamtlichen Engagements, die Idee der Gemeinwohlökonomie und von Genossenschaften. Er plädiert für die autofreie Stadt und die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens. Vor der Coronakrise hat es oft geheißen, dass es zum bestehenden System keine Alternativen gibt. Die Corona Pandemie hat Schluss gemacht mit diesem Märchen. Krisen sind auch Wendepunkte, Zeiten in und aus denen Neues entstehen kann. Vielleicht kommt wieder eine Zeit der Visionen, von neuen Gesellschaftsentwürfen. Es hängt von uns ab, ab wir in erster Linie den Weg zurück in die alte Normalität gehen, soweit das möglich ist, oder eine neue Realität aufbauen und damit eine Zeitenwende einleiten.
Heinrich Zoderer