Versunkene Dörfer - 70 Jahre Seestauung in Reschen und Graun

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Vor ziemlich genau 70 Jahren wurden die Naturseen Reschen- und Graunersee der südlichen Talsohle zum Reschenpass hin gestaut, um die beiden Seen und rund 500 ha Kulturgründe für die Stromerzeugung nutzbar zu machen. Zudem versank im Stauwasser ein Großteil des Dorfes Reschen und das gesamte Dorf Graun. Die Geschichte und das damit einher gegangene Unrecht dazu, wurde letzthin auch unter dem Titel „Das versunkene Dorf“ in Form eines Dokumentarfilms und eines Buches mit Zeitzeugen aufbereitet und nacherzählt. Der Film lockte über 18.000 Besucher in die Kinos und wurde mehrfach ausgezeichnet.

von Fabi Ludwig

Pralles Leben spielte sich vor dem zweiten Weltkrieg in den Dörfern Reschen, Graun und St. Valentin a.d.H. rund um die drei Naturseen des Vinschger Oberlandes ab. Reschen-, Mitter bzw. Grauner- und Haidersee durchfloss die junge Etsch, weite und ebene Acker- und Weideflächen begünstigten die Landwirtschaft/Viehzucht und ermöglichten auch eine touristische Nutzung. Hotels und Gasthöfe waren weitum bekannt und beliebt, denn die Seen boten Freizeitmöglichkeiten wie Baden und Bootsfahrten im Sommer und Eisstockschießen, Eis- und Schlittschuhlauf im Winter.
Lembergh Pircher Das versunkene Dorf Cover normalZu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden aber Pläne von Energiegesellschaften, die Seen und den Talkessel zur Energienutzung zu gewinnen. Ein erstes Projekt (1911) wurde aus geologischen Gründen nicht realisiert. Doch die faschistische Regierung Italiens unter Benito Mussolini griff diese Pläne nach der Annexion Südtirols zu Italien um 1920 wieder auf. Vordergründig sollte damit die Stromversorgung der Industrieanlagen in Bozen gewährleistet, aber auch die Italienisierung Südtirols vorangetrieben werden. Nach mehreren weiteren Konzessionsverweigerungen legte dann 1939 ein Sonderunternehmen des Montecatini Chemiekonzerns ein neues Projekt vor, welches 1940 genehmigt wurde. Da die Bevölkerung Südtirols mehrheitlich mit der Frage der Option bzw. des Dableibens oder Gehens beschäftigt war, konnte der aufkeimende Widerstand in Reschen und Graun, auch durch Desinformation begünstigt, im Keim erstickt werden. Die italienische Seite hoffte insgeheim sogar mit vielen Abwanderungen der deutschen Bevölkerung, um ihre Vorhaben besser umzusetzen. Im Frühjahr 1943 trat dann das Konzessionsdekret in Kraft, die begonnenen Bauarbeiten mussten aber wegen des Krieges unterbrochen werden. Die Grauner und Reschner hegten dadurch große Hoffnung, dass das Projekt aufgegeben werden musste. Doch 1947 kam alles anders und Vertreter der Montecatini präsentierten den definitiven Bauplan, der die folgenschwere Erhöhung des Wasserspiegels um 22 Meter also um 17 Meter mehr als die ursprünglichen 5 Meter beinhaltete. Von Anfang an wurde die Bevölkerung unzureichend über den Stand des Projektes informiert und auch dieser Umstand als nicht wesentlich erachtet. Doch neben dem Verlust von 500 ha Kulturgrund mussten rund 1000 Bewohner von Reschen und Graun Haus und Hof verlassen und sich ein neues Heim suchen, entweder in neuen Häusern am Rande des Stausees oder anderswo im Land. Die Entschädigungssummen waren zudem sehr gering und so entstand 1948 um Pfarrer Alfred Rieper ein Aktionskomitee, welches noch einmal mit Protestaktionen den Weiterbau stoppen wollte. Doch ohne Erfolg. Ein organisierter Marsch von Graun nach Reschen wurde s72 see2zerschlagen und Pfarrer Rieper verhört und verwarnt. Inzwischen wurden mit Hilfe von Finanzspritzen der Elektrowatt aus Zürich die Arbeiten weitergeführt und erlangten mit der Probestauung im Sommer 1949 einen ersten tragischen Höhepunkt. Ein Jahr später wurden dann die Häuser und Kirchen im künftigen Stausee gesprengt und der Stausee in der heutigen Form aufgestaut, das Kraftwerk in Glurns feierlich eröffnet. Dramatisch und ungleich wenig feierlich war das Schicksal der Vertriebenen und „Aussigwasserten“. Daher berührt die Geschichte rund um den Reschner Stausee auch nach 70 Jahren sehr viele Menschen und darf nicht in Vergessenheit geraten. Einige dieser Geschichten erzählt der Dokumentarfilm „Das versunkenen Dorf“ mit den noch lebenden Zeitzeugen. Die historische Chronik der Ereignisse mit umfassendem Fotomaterial und weitere Zeitzeugenberichte können im Buch „Das versunkene Dorf“ nachgelesen werden. Für viele Betroffene ist und bleibt die Seestauung ein Unrecht, das tiefe Wunden geschlagen hat, für andere ist sie ein Zeichen des Fortschritts und der Neuorientierung. Auf jeden Fall ist sie Mahnmal, was faschistische Regime mit Minderheiten anrichten können und was man bereit ist, für den Fortschritt zu opfern.

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