Wolfgang Platter, am Tag der Hlg. Sophia (Kolte Sofie), 15. Mai 2022
Am vergangenen 4. Mai hielt Dr. Enrico Bassi im Südtiroler Naturmuseum in Bozen einen Vortrag über das Blei als Material für die Jagdmunition und die schwerwiegenden Auswirkungen dieses Metalls auf die Greifvögel und die Aasfresser. Die Wissenschaft weiß heute, dass Blei weltweit eine Bedrohung für bestimmte Vogelarten darstellt. So kam etwa der Kalifornische Kondor in den 1990er-Jahren an den Rand des Aussterbens.
Enrico Bassi ist Naturwissenschaftler aus Bergamo mit Schwerpunkt Vogelkunde und u. a. im Nationalpark Stilfserjoch zuständig für das Monitoring der Steinadler und der Bartgeier.
Blei als Schwermetall
Blei ist als Metall schwer, aber weich und formbar. Daher wurde Blei etwa auch schon bei den Römern in der Antike für Wasserleitungsrohre und als Trinkbecher verwendet. Blei wirkt toxisch bei Einatmung und Nahrungsaufnahme. Aus dem Benzin als Treibstoff haben wir das Blei schon lange herausgenommen. Von seinen tödlichen Wirkungen in Vogelkörpern wissen wir auch schon lange genug, aber in der Jagdmunition verwenden wir es leider noch immer. Mit fatalen Folgen für die Populationen verschiedener Vogelarten, wie z. B. der Wasservögel wie Enten oder Flamingos, die Greifvögel wie Steinadler, Seeadler, Habicht, Rohrweihe und die Aasfresser wie Gänsegeier, Bartgeier und andere Nekrophagen.
Blei war früher auch in vielen Farben enthalten. Im Körper von Warmblütlern wie Vögeln und Säugetieren erhält es sich lange, wirkt als lähmendes Nervengift und führt im menschlichen Gehirn zu Verblödung. Aus der Kunstgeschichte wird kolportiert, dass etwa die Maler Vincent van Gogh, Francisco de Goya und der Komponist Ludwig van Beethoven an Bleivergiftungen litten und verstarben. Die alten Römer tranken ihren Wein aus Bleibechern. Dabei hat der Wein mit seinem sauren pH-Wert Blei-Ionen aus den Bechern gelöst, welche sich im menschlichen Körper angereichert haben. Blei ist im Gegensatz zu Kupfer im Körper, aber auch im Boden und in den Pflanzen lange beständig. So fanden Archäologen und Chemiker beispielsweise Blei in den Haaren von Römern, welche in der Zeit um Christi Geburt bestattet wurden. Die römischen Kaiser Nero und Caligula sollen an Bleivergiftungen gestorben sein.
Für verschiedene Vogelarten ist Blei – nicht durch direkten Abschuss, sondern über die Nahrungskette – eine Ursache für sehr große bis bestandsbedrohende Verluste, wie man heute weiß und Enrico Bassi in seinem Referat überzeugend ausgeführt hat.
Ein kurzer Blick in die Forschungsgeschichte
2006 kam es in der Maremma di Ravenna zu einem Massensterben von Flamingos. Die Flamingos waren nicht mit Bleimunition geschossen oder angeschossen worden, sondern nahmen die Bleikügelchen (aus Schrottmunition für die Entenjagd) bei ihrer Nahrungssuche im Schlamm und im Schlick auf. Dabei verwechseln sie die Bleikügelchen mit den kleinen Steinchen, die alle Vogelarten über den Schnabel aufnehmen und an Stelle der fehlenden Zähne als Mahlsteine in ihrem Kaumagen zur mechanischen Zerkleinerung der Nahrung einsetzen.
Die Beobachtung von zunächst nur als „krank“ beschriebenen Vögeln ist nicht neu. So sind im Handbuch für Jäger „Manuale del cacciatore“ von Giulio Franceschi aus dem Jahr 1893 schon rätselhafte Massensterben von Stockenten in den Jahren 1786, 1818-19 und 1828-29 beschrieben und es werden verschiedene Hypothesen über den Verlust dieser Schwimmvogelart angestellt. Die zwei trentiner Brüder Bonomi berichten in ihrer Publikation von 1922 über die Gämsjagd im Nonstal und vermuten einen Zusammenhang zwischen der Jagd und dem Sterben der Gänsegeier durch Vergiftung aus Blei.
Wenn eine Bleipatrone auf einen harten Gegenstand wie z.B. einen Knochen trifft, zersplittert sie in 500 und mehr kleine Splitter. Es gibt also oftmals nicht nur den tödlichen Einschuss und Ausschuss am erlegten Tier.
Das Röntgenbild vom Magen des Tanaser Steinadlers, der vor einigen Jahren noch lebend auf einer Wiese geborgen und nach seinem Verenden anschließend im Zooprophylaktischen Institut in Bozen untersucht worden ist, zeigt Bleisplitter im Gewölle innerhalb des Magens, das der Greif nicht mehr auswürgen konnte.
Bei den Bartgeiern hat der 2005 im Nationalpark Hohe Tauern am Boden noch lebend aufgefundene Bartgeier „Doraia“ auf die Spur der Bleivergiftung geführt: Der Brixner Biologe Michael Knollseisen, der seine Arbeit im genannten Nationalpark verrichtet, hatte die weiterbringende Idee, das Gewölle, welches der Bartgeier nach seiner Bergung in der Transportkiste ausgewürgt hat, im Röntgenapparat zu untersuchen. Und er wurde fündig.
2008 hatten wir im Nationalpark Stilfserjoch den Bartgeier „Ikarus“ im Marteller Schludertal nach seiner Geburt im Zoo Hannover freigelassen. In seinem ersten Lebensjahr war der Geier nach einem Neuschneefall von über einem Meter im November von einem Hausdach im trentiner Rabbital mit Lähmungserscheinungen geborgen worden. Nach fachmännischer Pflege durch Professor Hanns Frey an der veterinärmedizinischen Universität Wien wieder flugfähig geworden, ist Ikarus im Juni 2009 am Kleinboden in Trafoi ein zweites Mal freigelassen worden. Er wurde dabei mit einem neuen Satellitensender ausgestattet. Im Herbst seines zweiten Lebensjahres ist der Vogel in der Innerschweiz erneut vom Boden und noch lebend geborgen worden. Trotz kompetenter Pflege ist er im Tierpark Goldau verendet. Todesursache: Ein astronomisch hoher Bleiwert von 59 Milligramm Pb pro Kilogramm Körpergewicht in seinem Körper. Dabei war das Blei schon in die Knochenbälckchen eingebaut. Wenn Blei in Knochen eingebaut wird, führt es zu chronischen Vergiftungen. Ist es hingegen im Frischblut des lebenden Vogels oder im Koagulat eines verendeten Vogels nachweisbar, spricht man von akuter Vergiftung.
Mit den erstem Erkenntnissen aus den verendeten Bartgeiern „Doraia“ und „Ikarus“ ist die Erforschung der Folgen von Blei in den Körpern von fleischfressenden Greifvögeln und aasfressenden Geiern ins Rollen gekommen.
Heutige Stichprobenbreite N=252
In seinem Bozner Vortrag hat Enrico Bassi von den Ergebnissen der Untersuchungen an nunmehr schon 252 toten Steinadlern(92 Exemplare), Gänsegeiern (112), Mönchsgeiern (19) und Bartgeiern (29) oder deren Resten berichtet. Allein in den acht Jahren zwischen 2005 und 2012 konnten 5 Bartgeier als Todfunde in den Alpen geborgen und der Untersuchung zugeführt werden. Und lange nicht alle verendeten Bartgeier werden aufgefunden! Dazu kommt, dass die Symptome des sogenannten „Saturnismus“ (also der Bleivergiftung) oft uneindeutig und schwer zuordenbar sind.
Untersuchungen von Aufbrüchen
In den Jahren 2010-2012 haben Veltintaler Jäger in einer zukunftsorientierten Zusammenarbeit dem Nationalpark Stilfserjoch und dem Landesamt für Jagd und Fischerei der Provinz Sondrio 153 Aufbrüche (Eingeweide) von jagdlich erlegten Wildtieren (Reh, Rotwild, Gämse, Wildschwein) zur Untersuchung übergeben. Federführend in der nachfolgenden Forschung waren die Tierärztin Dr. Maria Ferloni vom genannten Landesamt und Enrico Bassi.
Die Ergebnisse der Röntgenuntersuchungen an den Aufbrüchen waren schockierend, ernüchternd und erhellend in einem: 77,7 % der untersuchten Aufbrüche von Rehen enthielten Bleisplitter, bei den Gämsen waren es 69,6 %, bei den Wildschweinen 55,6 % und bei den Hirschen 50 %. Im Querschnitt über alle untersuchten Huftierarten enthielten 62 % der Aufbrüche Bleisplitter. Von wegen Einschuss ist gleich Ausschuss!
Die Breite des Problems
Aus den jagdlichen Abschussstatistiken weiß man, dass in den Westalpen jährlich ca. 29.500 Aufbrüche von Säugetieren unter den abgeschossenen Wildtieren im Gelände verbleiben. In den Ostalpen sind es 37.600 Aufbrüche und im italienischen Apennin und auf den italienischen Inseln sind es weitere 38.700. Enrico Bassi nennt in seinem Bozner Vortrag die Zahl von einer Million abgeschossenen Singdrosseln pro Jahr allein für die Provinz Brescia.
Hochrechnung
Enrico Bassi hat eine extrapolierende Hochrechnung zur Einschätzung und semiquantitativen Darstellung des Problems Bleivergiftung vorgenommen: Wenn 62 Prozent der Aufbrüche aus der Stichprobe N=252 Bleisplitter enthalten und in den italienischen Alpen 49.464 Quadratkilometer Fläche als Jagdreviere genutzt werden, verbleiben bei den ermittelten Abschusszahlen von Huftieren unter den Wildtieren jährlich zwischen 34.100 und 44.200 bleikontaminierte Aufbrüche im Gelände der italienischen Alpen. Oder anders ausgedrückt: Neun bleikontaminierte Wildaufbrüche je 10 Quadratkilometer. Fürwahr eine tödliche und bestandsreduzierende Gefahr, welche zudem noch das Risiko der fortpflanzungsmindernden Vermehrung der gefährdeten Vogelarten wie Steinadler, Bartgeier, Gänsegeier, Habicht u. a. in sich birgt. Wir kennen auch die Größe der Territorien und die Raumnutzung der Greife und aasfressenden Vögel. Diese Vögel bestreichen nicht einen, sondern viele Quadratkilometer. All dieses bisherige wissenschaftlich konsolidierte Wissen zur Bleiproblematik liefert lange schon überzeugende Argumente, die Bleimunition für die Jagd aus dem Verkehr zu nehmen. Der Ersatz durch Kupferpatronen ist längstens und an vielen Tausend Abschüssen erprobt. Nicht die verminderten Tötungswirkung der Kupfermunition ist ein Problem der Jagd, sondern die bis zu 600 und 700 Metern getätigten Weitschüsse führen zu Nachsuchen und Verlusten von abgeschossenen Tieren. Kupfer splittert nicht und verweilt auch viel weniger lang im Kreislauf als Blei. Und ist außerdem ein Spurenelement, das Vögel so wie wir Menschen brauchen.