Sammeln, archivieren, sich austauschen und vernetzen, Schulbesuche, Ausstellungen, Frontwanderungen und Vorträge organisieren, Filme erarbeiten, produzieren und vorführen, mit der Geschichtsforschung zusammen-arbeiten - das hat sich der Ortler Sammlerverein zur Aufgabe gemacht.
von Maria Raffeiner
Acht originale Fotoalben von Moritz Erwin Freiherr von Lempruch, dem Kommandanten an der Ortlerfront, hat der Ortler Sammlerverein Erster Weltkrieg auf Ebay erstanden. 700 unveröffentlichte Fotos, akribisch beschriftet. Eigentlich waren sie dem Verein von Lempruchs Enkel überlassen worden, doch die Möbelhändler in einer Wiener Wohnung waren schneller gewesen, sodass die Alben in Ungarn gelandet waren. Neben Fotos besitzt der Verein dank seines guten Spürsinns viele weitere Akten und Dokumente. Um sie einem breiteren Publikum zugänglich und die Geschichte begreiflich zu machen, arbeiten die Mitglieder mit dem Medium Film. Technisch betreut die aufwändigen Dokus Eberhard Reinstadler aus Sulden, recherchiert und getextet werden die Episoden von Melanie Platzer. Die Filme greifen einen Frontabschnitt heraus, klären darüber auf, helfen dabei, die Geschichte der Ortlerfront im Detail einzuordnen. Mit Zitaten und historischen Aufnahmen halten sie die Vergangenheit lebendig. Doch auch die Gegenwart spielt hinein, wenn Eberhard Reinstadler mit seiner Kamera Sammler oder Archäologen im Hochgebirge begleitet, während sie sich auf die Suche nach Relikten begeben. 3D-Modelle eröffnet neue Sichtweisen.
Ein aktiver Sammler und der Gründungspräsident ist der Trafoier Christian Mazagg. Als Geschichtskenner hat er seine eigene Form gefunden, die Fakten am Berg zu überprüfen. Mit den überlieferten Ereignissen im Kopf tragen ihn seine Füße zu dem sich andauernd verändernden Berg, wo er wachsam vergleicht und oft etwas ausfindig macht. Ob er wandert oder zu einer Gipfeltour aufbricht, die Suche nach Resten lässt ihn nicht los. Wobei, manchmal denkt sich Christian Mazagg, es sei nicht mehr viel zu finden. Doch er wird immer wieder eines Besseren belehrt. „So habe ich Geschichte fühlbar und sie bleibt ein Kontinuum, immer spannend, immer neu. Lese ich sie in Büchern nach, verliere ich sie schneller wieder“, beschreibt Mazagg die Verbindung zwischen der Sammlertätigkeit und dem Geschichtserleben. Vereinspräsidentin Melanie Platzer ist öfters mit ihrem Vorgänger Christian Mazagg im Gebirge unterwegs: „Er schaut, er scannt geduldig mit seinen Augen den Boden ab. Irgendwann greift seine Hand nach einem kleinen Ding, das sonst niemand gesehen hat. Und meist ist es dann auch noch etwas Besonderes. Er hat einfach den Blick dafür.“ Das gesamte Ortlergebiet übe Faszination auf ihn aus. Die Funde würden dabei helfen, die Geschichte der Vorfahren aufzuarbeiten und sie bildhaft zu erzählen. Manche kann er nicht zuordnen, sie geben ihm lange Rätsel auf. Solange, bis er wieder einen Hinweis bekommt oder am Berg einen antrifft. Für den heurigen Sommer rechnet er wieder mit der ein oder anderen Entdeckung.
Franz Angerer hortet historisch gesehen wahre Schätze und stellt sie als Vereinsmitglied zur Verfügung oder erweitert die Vereinssammlung mit Schenkungen. Das Post Hotel in Sulden war im Besitz seiner Familie gewesen, weshalb er zahlreiche Dachbodenfunde gemacht und aufgearbeitet hat. Während der Ortlerfront waren die Kriegsoffiziere dort einquartiert gewesen. Aufgrund des turbulenten Kriegsendes und der hektischen Abreise der Offiziere waren Gegenstände und Dokumente im ehemaligen Hotel zurückgeblieben. Wer sie einmal besessen hat, ist unklar. Vielleicht war der Besitzer zu Kriegsende auch schon tot gewesen, vielleicht waren die Dinge unnütz geworden oder schlicht zu schwer. Ein Glücksfall für den Sammlerverein, dass der Großvater von Franz Angerer nach dem Krieg aufgeräumt und alles weggesperrt hatte. Jahrzehnte später hat es sich sein Enkel zur Aufgabe gemacht, die Stücke zu erfassen und zu ordnen. „Es hat keinen Sinn, dass die Gegenstände und Papiere irgendwo in einer Truhe liegen. Dank der Vereinsinitiativen können wir sie zeigen und für die Geschichtsvermittlung einsetzen.“ Zahlreich waren die Überraschungen und immer detaillierter wurden die Nachforschungen. Sie sind noch nicht zu Ende. Den Dokumenten geht er gemeinsam mit den Kolleg:innen aus dem Verein auf den Grund, findet Namen, Karten, Daten, Zusammenhänge. Und ein fesselndes Tagebuch, über das er noch Näheres herausfinden will. Den Namen des Schreibers weiß er dank einer Zimmerliste schon. Es trifft sich gut, dass in der Suldner Höhe sämtliche Stoff- und Fellteile, die zum Vorschein gekommen sind, ein Jahrhundert lang mottenfrei geblieben sind.
Ortler Sammlerverein Erster Weltkrieg
Ausschuss: Mag. Melanie Platzer (Präsidentin, Historikerin), Gerald Holzer (Vize-Präsident), Christian Mazagg, Eberhard Reinstadler, Benjamin Tragust
Mitglieder: 50, davon 3 Frauen, einige auch aus Deutschland und Österreich
Entstehung: 2006 nach einer ersten erfolgreichen Ausstellung im Nationalparkhaus naturatrafoi als Kollektiv von geschichtsbegeisterten Sammlern gegründet
Tätigkeiten: sammeln, archivieren, sich austauschen und vernetzen, Schulbesuche, Ausstellungen, Frontwanderungen und Vorträge organisieren, Filme erarbeiten, produzieren und vorführen, mit der Geschichtsforschung zusammenarbeiten
Wunsch: Ehrgeiz bewahren und Interesse wecken, systematische Zusammenführung und Aufbereitung der Funde in einer dauerhaften musealen Einrichtung, bevorzugt in der Festung Gomagoi
Wichtig: Alle Funde sind meldungspflichtig (Behörden, Bürgermeister, Amt für Archäologie) und müssen vor Ort bleiben. Es ist nicht erlaubt, sie mit nach Hause zu nehmen. Bei Munition könnte es sich noch um Blindgänger handeln, weshalb Vorsicht geboten ist. Der Verein arbeitet mit dem Land Südtirol zusammen und ist befugt, die Überreste zu verwalten. Derzeit laufen archäologische Arbeiten des zuständigen Amtes an der Baracke der Königsspitze, deren Ergebnisse in naher Zukunft bekannt gegeben werden. Die Vereinsmitglieder erwarten sie gespannt.
Die Ortlerfront
Im Mai 1915 war Italien gegen den früheren Bündnispartner Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg eingetreten und Tirol über Nacht zum Frontgebiet geworden. Der Vinschgau, besonders das Martelltal, Sulden und Trafoi, waren Aufmarschgebiet für Tausende von Soldaten. Die Bergspitzen um das Stilfserjoch bis zum Cevedale wurden von den italienischen Truppen besetzt. Das k.u.k. österreichische Heer und die Tiroler Standschützen mussten nachziehen. Es entstanden Unterkünfte sowie Artilleriestützpunkte. Bei schlechter Verpflegung und unter widrigen Bedingungen wurden die entlegensten Gletscher zum Kriegsschauplatz. Gänge und Stollen führten tief unter die Eisdecke, Seilbahnen wurden gebaut. Auch Italien baute seine Stellungen aus, es kam zu Angriffen und einem immer höher gelegenen Wettrüsten. Die Bergspitzen dienten als Beobachtungspunkte und wurden Angriffsziele im Schlagabtausch von Wehren und Feuern. Geschütze wurden bis auf den Ortler, den mit 3905 m höchsten Berg der Donaumonarchie, geschleppt. Den größten Feind stellte jedoch die Natur: Bittere Kälte, Schneemassen, Steinschlag und Lawinen forderten neben den militärischen Operationen im Stellungskrieg zahlreiche Opfer. Weder Italien noch Österreich-Ungarn schafften nennenswerte Erfolge. Nach drei Jahren Krieg, den die italienischen Alpini, die österreichischen Kaiserjäger und auch die Zivilbevölkerung erlitten hatten (Beschuss von Trafoi und Evakuierung der Bewohner), trat im November 1918 das Kriegsende ein. Der Krieg hat sich nicht im Tiroler Gebirge entschieden, sein Ausgang war dennoch folgenschwer: Wie im „Londoner Vertrag“ 1915 zwischen Italien und den Siegerstaaten vereinbart, fielen das Trentino, Triest und Tirol bis zum Brenner zu Italien.
GESCHICHTE ERLESEN
Buchtipps
Trafoi. Ein Dorf zwischen Ortler, Furkel und Stilfserjoch. Hrsg. v. Herbert Raffeiner, Hans Thöni und Christian Mazagg.
Folio Verlag; Bozen 2020. (Im Buchhandel bereits vergriffen, zu beziehen über die Gemeinde Stilfs)
Zeit im Eis. Gletscher geben die Geschichte frei. Die Front am Ortler 1915-1918.
Sebastian Marseiler, Udo Bernhart, Franz Josef Haller: Bozen 1996.
Heinz König: „Gedenke, o Wanderer …“
Biographisches Mosaik über Ing. Moritz Erwin Freiherr von Lempruch Generalmajor a. D., Bozen 2012.
GESCHICHTE ERLEBEN
Nach Tipps von Gerald Holzer (Vize-Präsident des Ortler Sammlervereins) zusammengestellt
Für Familien geeignet, ca. 1 Stunde Gehzeit: Monte Scorluzzo (3904 m), vom Stilfserjoch aus leicht erreichbar (dorthin fährt ein Linienbus!). Es gibt Stellungsreste zu sehen und Informationstafeln helfen bei der historischen Einordnung. Die Wanderung kann dem Filon Del Mot entlang fortgesetzt werden, dort befinden sich Reste der italienischen Kriegsstellungen.
Ca. 3,5 Stunden Gehzeit: Weg Nr. 20: Dreisprachenspitze (2843 m) - dort treffen Südtirol, die Lombardei und Graubünden aufeinander, in kürzester Zeit vom Stilfserjoch aus zu erreichen – Reste des Lempruchlagers (Truppenlager) – über den Goldseeweg, vorbei am Goldsee und an der Goldseestellung zur Furkelhütte. Von dort aus kommen Sie mit dem Sessellift oder über Weg Nr. 17 hinunter nach Trafoi. Thementafeln zur Gebirgsfront, zu Geologie und Botanik. Auch möglich: Richtung wechseln und bei der Furkelhütte starten.
Goldseetrail fürs Mountainbike: Nur bis 9 Uhr morgens oder ab 16 Uhr abends befahrbar!
Weitere Touren zum Thema Ortlerfront führen in Schnee und Eis und bedürfen hochalpiner Erfahrung. Vertrauen Sie sich dafür einem Bergführer an.
Das „Museum für das Ortlergebiet“ zeigt Exponate zur Geschichte des Tourismus und Alpinismus in Sulden. Zudem gibt es eine Sonderausstellung über die Front in Fels und Eis sowie Mineralien zu besichtigen (Sammlung Konrad Knoll). Im Erdgeschoss der Grundschule Sulden, von Mitte Juni bis Mitte September, täglich von 09.00 Uhr bis 22.00 Uhr.
Kontakt: Familie Knoll +39 0473 613032