Dass sie beide Trentiner waren und Deutsch weder verstanden noch sprechen konnten, ist eine kleine Bosheit der Geschichte. Südtirol lässt sich seinen Herzschmerz nicht gern von Auswärtigen behandeln. Oder, um die ganze Wahrheit zu sagen: Es ist sehr überzeugt, dass Südtirol nicht versteht, wer nicht Südtiroler ist. Das Trentiner Autorenpaar verstand die Südtiroler Bauern aber offenbar dennoch sehr gut, und für die Sprache nahmen sie sich gelegentlich einen Südtiroler als Übersetzer mit.
Auf Stallwies zuhinterst und zuoberst im Martelltal im Vinschgau, wohin Gorfer und Faganello kurz vor Weihnachten 1971 hinkamen, fügte es sich besonders glücklich mit dem Übersetzer. Es war der junge Priester Josef Stricker, Sohn des Hauses. Gorfer hatte ihn auf der Diözesansynode kennen gelernt, die zu der Zeit in Brixen stattfand. Stricker verstand, außer gut Italienisch, auch alles vom Thema. Die Zeitungsartikelserie über Südtirols Bergbauern, die in der Folge zu dem bekannten Buch wurde, verfolgte das Ziel, die letzten und nach Möglichkeit extremsten Zeugen einer untergehenden Welt herzuzeigen. Denn dass das Bergbauerntum dem Untergang geweiht sein würde, darüber bestand selbst bei den Bergbauernfreunden Gorfer und Faganello nicht der geringste Zweifel. Sie hielten es für eine bedauerliche, aber unvermeidliche Entwicklung. Anderswo, selbst im benachbarten Trentino, das nicht weniger bäuerlich geprägt war als Südtirol, war die Landflucht schon viel weiter fortgeschritten.
Südtirol war aufgrund seiner besonderen politischen Verhältnisse im Wortsinn „hinten geblieben“. Wegen der systematisch betriebenen Zuwanderung aus Italien blieb den Bauernkindern der Zugang zu den Arbeitsplätzen in der Industrie im Land jahrzehntelang versperrt. Sie hatten keine Alternative und blieben auf den Höfen. Konsequent mit seiner Einschätzung wollte Aldo Gorfer seine Bergbauernserie deshalb ursprünglich „I condannati della solitudine“ nennen: „Verdammt zur Einsamkeit“. Es war der studierte Bergbauernsohn Josef Stricker, der den Autor von dem apokalyptischen Titel abbrachte. Stricker dachte nicht so pessimistisch, und Gorfer ließ sich überzeugen. So änderte er den Titel zum milderen und zweifelsfrei poetischeren „Gli eredi della solitudine“. Die Erben und nicht die Verdammten.
Wir sind jetzt, 40 Jahre später, auf Stallwies gekommen, und wieder ist Josef Stricker unser Begleiter. Für den Fotografen und mich ist es eine Einkehr, für Josef eine Rückkehr. Er, der Arbeiterpriester, der sein Lebtag nur für die Benachteiligten der Gesellschaft gearbeitet hat, Gewerkschafter und Sozialberater war, ist Im Sommer 2011 auf der Talferpromenade in Bozen Opfer eines Raubüberfalls mit kompliziertem Beinbruch geworden. Länger als über ein Jahr zog sich die Heilung hin, und jetzt, nach anderthalb Jahren kommt er mit uns zum ersten Mal wieder heim auf den elterlichen Hof, den nach seinem Bruder Eduard inzwischen schon der Neffe Oswald führt. Wir fahren die schmale Straße von der Ortschaft Martell hinauf, Kehre um Kehre, als ob es nicht mehr enden wollte. Steil fällt das Tal linksseitig zur Plima hinab. Der Fichtenwald geht in einen Lärchenwald über und in den Lärchenwald mischen sich allmählich die ersten Zirmkiefern. Bald müssten wir an die Waldgrenze kommen.
Der Cevedale-Gletscher im Talschluss ist von Nebel verhangen, darunter glänzt silbern der Zufritt-Stausee heraus, und endlich: eine Waldlichtung, der Stallwieshof. „Berggasthaus Stallwies“ steht angeschrieben.
Die alte Hofstatt, geschmackvoll erneuert und wohl auch erweitert. Wir halten an. Josef und ich steigen aus und machen uns zu Fuß auf die letzten 200 Meter Weg hin zum Haus. Dort muss man uns schon erspäht haben. Nach und nach kommen die Hausleute vor die Tür: die Altbauersleute, die bundesdeutsche Jungbäuerin mit dem einmonatigen Kindchen Romy im Tragetuch, Mitarbeiter, und zum Schluss kommt noch Oswald, der Jungbauer in Koch-Uniform mit weißer Mütze, und sein Bruder Peter im Kellner-Dress heraus. „Schau, der Onkel Sepp!“, ruft der Eine nach dem Andern.
Es geht auf Mittag zu, und obwohl noch September ist, drängen wir in die Stube. Draußen ist es schon spätherbstlich kühl. Wir haben uns vorgenommen, Schöpsbraten mit Knödeln zu essen. Dafür und für die Erdäpfelschlutzer ist Stallwies überörtlich bekannt. Das Fleisch kommt von den eigenen Schafen, und alles ist hausgemacht. Oswald hat zusammen mit dem Vater Eduard nicht nur das heimatliche Stallwies aus einem Bauernhof zum Gasthof umgebaut, er hat sich selber umgeschult, hat nach der Landwirtschaftsschule in Burgeis die Hotelfachschule in Meran besucht und ist jetzt sein eigener Koch. Der jüngere Brüder, Peter, ist inzwischen Oswalds fest angestellter Mitarbeiter und schmeißt die Gaststube genauso wie, wenn nötig, Feld und Stall.
Bis aufs Jahr 1332 zurück ist Stallwies als besiedelte Stätte nachweisbar. Die Stricker sind ununterbrochen seit 1688 auf dem Hof. Die landesamtliche Erbhof-Urkunde prangt in Messing an der Hauswand, auf gerahmtem Pergament in der Stube. In den „Erben der Einsamkeit“ lesen wir eine einschlägig aufschlussreiche Szene. Sie hat zu ihren Darstellern den seinerzeitigen Altbauern Alois und dessen Sohn Eduard, damals Jung- und inzwischen selber Altbauer auf Stallwies. Der Autor traktiert Vater und Sohn mit der fatalistischen Frage, ob und wann sie den Hof wohl verlassen würden. Dass es irgendwann sein müsse, daran lässt der Weltmann Gorfer keinen Zweifel. Am Altbauern prallt alles Nachbohren ab. Nix da, die Frage stellt sich nicht. Geblieben wird. Gemein fast versucht der Berufsfrager Vater und Sohn auseinander zu dividieren. Ob Eduard denn ginge, wenn er einen Arbeitsplatz in der Fabrik angeboten bekäme? „Das käme drauf an, wo. In der Stadt nicht. In Schlanders oder in Laas,vielleicht, wäre es etwas anderes“.
Der Vater habe den Sohn besorgt angeschaut. Würde er gehen? Dann kommt es aus dem Sohn doch noch einmal: „Es ist schwer, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu leben. Aber vielleicht wird der Stallwieshof doch nicht aufgelassen werden.“
Heute erinnert sich Eduard wieder an jenes Dilemma von einst. Stallwies ist nicht aufgelassen worden. Miteinander haben sie es umgewidmet. Eduard hat den Hof Anfang 1970 vom Vater übernommen.
Von der Landwirtschaft zu leben, den sieben Hektar Feld und ein bisschen Waldweiden, war aussichtslos. Einem Nebenerwerb nachzugehen, dafür war der Hof zu abgelegen. Und außerdem führte noch kein Fahrweg hin. 1974, als Sohn Oswald, der heutige Hofbesitzer. geboren wurde, mussten Vater, Mutter und Hebamme mit der notdürftigen Materialseilbahn ins Tal hinabbefördert werden. Vier seiende und ein werdender Mensch mitsammen in einer Bretterkirste - eine fürwahr halsbrecherische Notaktion. 1977 kam dann die Straße auf Stallwies. Aber da waren Eduard und seine junge Familie schon so weit, dass sie nicht mehr ans Weggehen dachten, sondern daran, wie fremde Leute hergeholt werden könnten. Der Bauer tat sich um eine Ausschank-Lizenz um und begann, eine Gastwirtschaft aufzubauen. Mit hofeigenen Produkten, bescheiden, aber stetig.
Heute präsentiert sich Stallwies als Berggastwirtschaft mit angeschlossener Bauerschaft. Die Wiesen werden selbstverständlich gemäht, arbeitsaufwändiges Milchvieh ist keines mehr im Stall, einiges Fleischrindvieh ist noch da, und 40 Schafe. Qualitätsrohstoff für die Gastwirtschaft. Und nicht zu vergessen: Ein Stück Roggenacker ist auf den „höchsten Getreidehof Europas“ zurückgekehrt. 100 Quadratmeter vielleicht, höchstens 150, im steilsten Gelände, so wie ehedem. Zur persönlichen Gaudi, jetzt. Jahrhundertelang war es zum Überleben. Weil er „es sich leisten kann“ und „es auch der Wahrheit entspräche“, könnte Oswald seinen Hof heute ruhig Bio nennen. „Mehr Bio als so ...!“ meint er. Er will aber nicht. Er ist überzeugt, er würde sich dadurch nur verdächtig machen. „Wenn ich heute in einem Gasthaus wie dem unsern überall Bio drauf stehen sehe, dann bringt mich das unwillkürlich auf schlechte Gedanken: Haben die es nötig, mir etwas vorzumachen?“ Die Gäste kommen auch so. 20 Fremdenbetten in 9 Zimmern gibt’s auf Stallwies. Die Küche genießt mittlerweile überörtlichen Ruf und wäre ohne die angeschlossene Landwirtschaft nicht die Adresse, die sie ist. Stallwies ist im Winter beliebter Ausgangspunkt zu Schitouren und Schneeschuhwanderungen; im Sommer, der hier kurz ist, finden Wanderer her. Übersaisonal gültig ist, wie gesagt, die Küche.
Jana mit klein Romy ist in die Stube bekommen. Sie ist Oswald Lebensgefährtin und kommt aus Leipzig. Das Großstadtkind, das Kühe nur vom Fernsehen her kannte, war mit den Eltern auf Urlaub auf Stallwies gekommen, und wie das Leben so spielt: „Ich hätt’s schlechter treffen können“, sagt die junge Frau neckisch. Sie ist ausgebildete Physiotherapeutin. Bis Romy kam hat sie auch als solche in Schlanders gearbeitet. Inzwischen braucht es „die Junge“ schon „bei der Arbeit daheim“. Jana legt überall Hand an. „Ich darf alles ausprobieren“, sagt sie bescheiden. Ob sie nicht irgendwann weg gehen möchte? Ich merke, dass ich die gleiche Frage stelle, wie vor 40 Jahren Aldo Gorfer sie Janas Schwiegervater gestellt hat. Die zugezogene Stallwieserin Jana hat weniger Zweifel als der Erbhofsohn Eduard von damals. Sie wird bleiben, ist sie überzeugt. „Wir haben es gut hier.“ Wir? Sie meint sich, das Kind, ihren Oswald, die Familie Stricker. Aber ein bisschen auch ihre Landsleute insgesamt. „In Martell leben heute 12 deutsche Frauen. Die meisten auf Höfen.“ Von wegen „verdammt zur Einsamkeit“.
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