Roland Pircher: Heuer müssen alle Grenzpendler, die in der Schweiz von der Krankenversicherung befreit sind, die staatliche Krankenversicherung in Italien leisten. Die Grenzpendler erhalten in diesen Tagen ein diesbezügliches Schreiben von der „Krankenkasse Südtirol“. Die Grenzgänger, die Rentner mit alleiniger Pension von der Schweiz und deren Familienangehörigen werden wählen können, ob sie in der Schweiz oder in Italien krankenversichert sein wollen. In Italien sind 7,5 Prozent des Gesamteinkommens bis 20.658,28 Euro zu zahlen. Progressiv plus 4 Prozent kommen bis zu einem Einkommen von 51.645 Euro hinzu.
Vinschgerwind: Auch die Offenlegung der Konten in der Schweiz ist schon länger ein Thema.
Pircher: Richtig. Ein letzter Aufruf ergeht von meiner Seite an alle, die freiwillige Offenlegung der Konten in der Schweiz, das wird „Voluntary Disclosure“ genannt, bis zum 30.09.2015 vorzunehmen. Das ist der vom Staat vorgegebene Endtermin.
Vinschgerwind: Wechseln wir zur Familienpolitik. Sie kennen die Unterschiede zwischen Italien und der Schweiz?
Pircher: In der Schweiz ist es so, dass werdende Mütter bis zur Geburt, bis zur Entbindung arbeiten müssen. Dann sind 14 Wochen Mutterschaft vorgesehen. Italien hat ein rigoroses Mutterschaftsgesetz mit obligatorischen und fakultativen Mutterschaftsurlaub. Das ist in dieser Form zu erhalten. Aber die Familienpolitik ist bei uns eine Katastrophe. Der Staat, die Region und unser Land müssen, bin ich der Meinung eine andere Familienpolitik machen. Das gesamte „Familienpaket“ ist zu überarbeiten. Anstatt wie bisher ein Landes- und eine regionales Familiengeld auszubezahlen, sollte nur ein einziges Paket geschnürt werden. Das würde auch Kosten in der Verwaltung einsparen. Ich empfehle, den Müttern, bis das Kind drei Jahre alt ist, monatlich 400 Euro zu zahlen, damit sie sich der Kindererziehung widmen können. Die Kitas können als zweite Schiene in größeren Gemeinden verwirklicht werden. Auf der anderen Seite muss der Staat, und das ist ein Aufruf an unsere Parlamentarier, das Kindergeld erhöhen und zwar bis zum 26. Lebensjahr bei studierenden Kindern. Auch der Steuerfreibetrag für zu Lasten lebender Familienmitglieder muss unbedingt auf 5.000 Euro erhöht werden. Seit rund 30 Jahren ist dieser Freibetrag mit 2.840 Euro gleich. Das kann es nicht sein.
Vinschgerwind: Ist Arbeitslosigkeit im Raum Mals, im Raum Vinschgau ein brennendes Thema?
Pircher: Es herrscht Arbeitslosigkeit, gewiss. Deshalb sage ich, wer eine Arbeit vor der Haustür hat, sollte das zu schätzen wissen. Unsere „Klein- und Mittelbetriebe“ haben große Schwierigkeiten, sich über Wasser zu halten. Deshalb ergeht mein Appell an die Arbeitnehmer, mehr zum Betrieb hinzuschauen und ab und zu auch mal eine halbe Stunde „gratis“ arbeiten. Nur wenn es den Betrieben gut geht, geht’s den Arbeitern auch gut. Ich sage nicht, dass man sich ausnutzen lassen soll. Die Betriebe, ich kenne die Lage ziemlich gut, müssen steuerlich entlastet werden, damit sie mehr Luft für Investitionen und für Neueinstellungen bekommen. Bei den „Arbeitslosen“ ist, das ist meine Meinung, strengere Handhabung vonnöten. Gesetzlich ist vorgeschrieben, dass Arbeitslose aufgrund der Qualifikation und im Umkreis von 50 km dem Betrieb, der diese entsprechende Qualifikation sucht, zur Verfügung stehen. Ansonsten verliert man den Arbeitslosenstatus. Das muss rigoroser angewandt werden.
Vinschgerwind: Sie machen viele Rentengesuche. Mit welchen Erfahrungen und Beobachtungen können Sie da aufwarten?
Pircher: Mit 40 Dienstjahren ist die Luft bei der Arbeiterschaft draußen. Aus meiner Erfahrung heraus mache ich den Vorschlag, dass Frauen etwa mit 35 bis 40 Dienstjahren selbst wahlweise entscheiden können, wann sie in Rente gehen möchten - natürlich mit entsprechendem Abschlag. So wird es in der Schweiz gehandhabt. Bei den Männern würde ich dasselbe mit 40 bis 43 Dienstjahren empfehlen, natürlich mit entsprechendem Abschlag. Damit könnte auch der Arbeitslosigkeit entgegengewirkt werden. Und ein Weiterarbeiten nach der Rente? Meine Idee ist, dass bis zu vier Monaten mit „Voucher-Gutscheinen“ auch nach der Rente gearbeitet werden könnte. Alles, was darüber ist, ist meiner Meinung nach mit der Rente nicht vereinbar. Ich erlaube mir auch einen Aufruf an die jungen Menschen: Ich empfehle, sich mit einer privaten Vorsorge zusätzlich abzusichern. Es ist nämlich nur eine „minimale Realrente“ aufgrund der gearbeiteten Versicherungsjahre vorgesehen, sollte jemand krank oder gar invalide werden.
Vinschgerwind: Haben Sie schon absurde Situationen bei den Rentenberechnungen erlebt?
Pircher: Unglaubliche sogar. Ein Beispiel nur: Ein Monat Unterschied beim Arbeitseintritt haben vier längere Arbeitsjahre ergeben.
Vinschgerwind: Sie haben auch mit dem Ansuchen um Pflegegeld zu tun. Wie schaut es da aus?
Pircher: Ich bin der Meinung, dass das Pflegegeld, so wie es jetzt gesetzlich verankert ist, sofort überarbeitet werden muss. Auch damit es länger funktionieren kann. Ich bin der Meinung, dass jeder Bürger in Südtirol auf der Basis seiner wirtschaftlichen Situation einen Beitrag für die Pflegesicherung leisten sollte. In Deutschland, einem der reichsten Länder, leisten sogar die Rentner einen Pflegesicherungsbeitrag. Mit diesem Pflegebeitrag würden bei uns Geldmittel frei, die für die Erhaltung der Krankenhäuser eingesetzt werden könnten. Ich bin auch der Meinung, dass das Pflegegeld aufgrund der wirtschaftlichen Situation, auf der Basis der EEVE-Erklärung etwa, ausbezahlt werden sollte.
Ich trete für soziale Gerechtigkeit ein und bin deshalb der Meinung, dass in bestimmten Fällen kein Pflegegeld ausbezahlt werden sollte. Dann nämlich, wenn ein Familienmitglied aufgrund des Gesetzes 104/92, welches dem Arbeitnehmer volle soziale Absicherung zusichert, einen Pflegefall zu Hause betreut. Wenn eine Tochter oder Sohn oder ein sonstiges Familienmitglied einen Pflegefall betreuen und dabei keine soziale Absicherung haben, soll das Pflegegeld natürlich ausbezahlt werden.
Vinschgerwind: Die Patronate des KVW-ACLI beklagen in letzter Zeit mangelnde Finanzierung.
Pircher: Damit die Rechte der Bürger in Italien und in Südtirol, für Informationen aller Art, für die Gesuchsstellung verschiedner Anträge, weiterhin gewahrt werden können, müssen die Patronate weiterhin finanziell vom Staat, von der Region und von der autonomen Provinz Bozen unterstützt werden.
Interview: Erwin Bernhart
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