Wolfgang Platter, vormaliger Direktor des Nationalparks Stilfserjoch
Der Winter ist Lesezeit. Der Winter ist für manche auch Urlaubszeit. Und ein Teil der Urlaubszeit kann auch Lesezeit sein. Lesen bildet und verhilft zu mehr Wissen. Auf diesen Seiten mein Angebot zur Information und Reflexion über den Artenschwund, das Artensterben und den Verlust an Biodiversität. Als Informations- und Datenquelle dient mir das Buch des Hamburger Evolutionsbioloen und Universitätsprofessors für Biodiversität Matthias Glaubrecht „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“
(Pantheon Verlag 2021).
Insektenschwund
Vor Jahren klebten sie im Sommer noch zu Tausenden an den Windschutzscheiben unserer Autos. Vor drei bis vier Jahrzehnten schwirrten und flatterten sie noch auf unseren Wiesen, als diese noch Wildblumen und Kräuter trugen und nicht die Ertrag-Gräser dominierten: die Insekten. Doch wo es früher summte und brummte, schwirrte und zirpte, ist es heute still. Das Insektensterben kam lautlos und hinterließ keine Spuren. Vielleicht sollte ich besser sagen keine offenkundigen, schnell erkennbaren Spuren. Denn Schwund und Sterben der Insekten hinterlassen sehr wohl Spuren.
Insekten stellen nicht nur zwei Drittel aller tierischen Arten. Sie bilden in ihrer Vielfalt vor allem auch als wichtige Glieder der Nahrungskette die Grundnahrung für die insektenfressenden Vögel, Fledermäuse und für andere Tiere wie Eidechsen oder Lurche. Unverzichtbar ist die Rolle der Insekten bei der Bestäubung vieler Pflanzen.
Der gefühlsmäßige Eindruck, dass die Insekten in ihrer Biomasse und in ihrer Populationsdichte schwinden, ist mit der Veröffentlichung der sogenannten Krefelder Studie wissenschaftlich nachgewiesen und quantifiziert und somit zur Gewissheit geworden.
Die Krefelder Studie
Ausgewiesene Insektenkundler des Krefelder Entomologischen Vereines um Martin Sorg haben vorausahnend schon im Jahr 1989 in 63 Schutzgebieten in Nordwest- und Norddeutschland spezielle Insektenfallen aufgestellt und bei insgesamt 1.500 Proben jeweils das Gesamtgewicht der darin gefangenen Fluginsekten ermittelt. Das Ergebnis der wertvollen Langzeitstudie: An jeder Messstation sind über die 27 erfassten Jahre bis 2015 immer weniger Tiere in die Fallen geflogen. Konkret ging das Gewicht der gefangenen Insekten um 76 % zurück. In den Hochsommermonaten betrug der Rückgang sogar 82 %. Jahr für Jahr fiel das Insektengewicht in den Fallen um durchschnittlich 6 %. Hatten die Krefelder Forscher anfangs zwischen Mai und Oktober 1.400 Gramm von Insekten der unterschiedlichsten Arten gefangen, waren es gehen Ende des Erhebungszeitraumes z.B. im Jahr 2015 nur mehr 300 Gramm. In der Summe aller Jahre wurden insgesamt 53 kg Insekten gefangen. Die Millionen dieser Tiere wurden nicht nach Arten aufgeschlüsselt. Die Entschlüsselung der Sammelfänge nach Arten wäre auch gar nicht möglich gewesen. Deswegen kann die Krefelder Studie auch nicht darüber Aufschluss geben, welche Arten in den Proben jüngerer Zeit fehlen gegenüber früheren Fangjahren. Und die Daten dürfen nicht fehl- oder überinterpretiert werden. Die Studie belegt nicht das Artensterben bei Insekten. Sie sagt nicht, dass die Artenvielfalt der Insekten um 76 bzw. 82 % zurückgegangen ist. Belegt ist mit der Studie der Schwund der Biomasse, nicht der Biodiversität von Fluginsekten. Das ist ein wichtiger Unterschied. Und ein beruhigender: Wenn Forscher auf Arten und Populationen schauen, dann geht es ihnen um seltene Arten ebenso wie um häufigere Arten. Es sind aber die häufigen Arten, die den größten Teil am Gewicht (Masse) aller Individuen stellen. Wenn mit dem Gewicht, sprich der Masse auch die häufigen Arten zurückgehen, muss es um die Insektenwelt besonders schlecht bestellt sein; schlechter, als wenn nur die ohnehin seltenen, anspruchsvollen oder empfindlichen Arten betroffen wären. Es geht also bei der Krefelder Studie in erster Linie nicht um die geringere Artenvielfalt, sondern zunächst einmal um dramatisch weniger Tiere.
Zwei der dramatischen Folgen möchte ich nachstehend etwas ausführen: Bestäuber machen sich aus dem Staub und insektenfressende Vögel (ver)hungern.
Insekten als Bestäuber
80 Prozent aller Wildpflanzen werden von Insekten bestäubt. Und zwei Drittel der weltweit angebauten knapp 100 Arten von Nutzpflanzen sind ganz oder teilweise von der Bestäubung durch Insekten abhängig. So werden z. B. sämtliche Kakaopflanzen von nur zwei winzigen Mücken-Arten bestäubt. Ohne Mücken kein Kakao, ohne Kakao keine Schokolade.
Ohne Bestäuber nähme die Mangelernährung in der Welt zu. Zwar sind die für unsere Versorgung mit Kohlenhydraten wichtigen Getreide wie Weizen, Roggen, Gerste, Reis, Mais als Nutzpflanzen allesamt Windbestäuber. Doch jene Pflanzen, denen wir Obst und Gemüse und damit die wertvollen Vitamine verdanken, werden durch Tiere und eben vor allem durch Insekten bestäubt. Deshalb hängen auch wir Menschen von diesen Insekten ab. Weltweit, so schätzt man, dürften es 20.000 verschiedene Arten von Bestäuberinsekten sein.
Die unentgeltliche Serviceleistung der Bestäuber lässt sich als „Ökosystemdienstleistung“ sogar berechnen: der US-amerikanische Agrarökologe Simon Potts hat mit seinem Team eine geldwerte, weltweite Leistung der Bestäuber im Umfang zwischen 235 und 577 Milliarden US-Dollar errechnet. So viel müsste man zahlen, wenn der kostenfreie Service von Honigbienen, Wildbienen, Hummeln und Konsorten entfiele. Für die Apfelbäume auf unserer Erde hat Potts einen Bestäubungswert von 33,5 Milliarden Dollar jährlich errechnet.
Doch wo sind die Insekten hin? Buchstäblich an der Wurzel des Insektensterbens steht die Verarmung unserer Pflanzenwelt. Den Pflanzen sind die Grundlage der ökologischen Netzwerke. Ohne die Wildpflanzen verhungern Insekten und mit ihnen andere Tiere, die sich von ihnen ernähren: fleischfressende Insekten und Spinnen, Vögel und Fledermäuse, Reptilien und Amphibien.
Vögel als sensible Bioindikatoren
Zwischen dem drastischen Insektensterben und dem rapiden Rückgang der Vögel gibt es einen direkten Zusammenhang. 60 % aller Vogelarten und 70 % aller Fledermausarten sind auf Insekten als Nahrungsquelle angewiesen. Insekten, und andere Wirbellose wie etwa Spinnen, Schnecken, Regenwürmer stellen darüber hinaus zumindest während der Brutzeit auch die Nahrung der körnerfressenden Vögel dar, weil beinahe sämtliche Arten zumindest ihre Jungvögel mit Insekten füttern. Wie die Krefelder Studie zur längerfristigen Entwicklung der Biomasse zeigt, sind im letzten Vierteljahrhundert (1989-2015) vier Fünftel des Futters für insektenfressende Vögel weggebrochen. Vögel hungern heute also. Die Frontscheiben an unseren Autos werden nicht mehr durch Insektenleichen verschmutzt.
Es verwundert nicht, dass sich das Insektensterben zeitlich sehr genau mit der negativen Bestandsentwicklung vieler Vogelarten deckt. Diana Bowle hat mit ihren Forscherkollegen im März 2019 eine Studie über den Langzeittrend der Bestände von insektivoren Vögeln vorgelegt. Die Forscher zeigten in der Studie auf, dass die Zahl der von Insekten lebenden Vogelarten, von Bachstelze und Wiesenpieper bis zu Rauchschwalbe und Rohrschwirl, in den letzten 25 Jahren in ganz Europa um 13 % zurückgegangen ist. Nur bei den omnivoren Arten, also bei jenen, die sich sowohl von Insekten als auch von Körnern und Samen ernähren, sind die Bestände weitgehend konstant geblieben. Aus diesen unterschiedlichen Entwicklungen der Vogelpopulationen von Insektenfressern und Körnerfressern lassen sich auch Schlüsse auf das Zusammenbrechen der Bestände von Insektivoren ziehen. Insektenfresser kommen mit vielen Arten bevorzugt auf Grasland wie Wiesen und Weiden vor. Der Lebensraum Wiese ist heute vielerorts durch Einsaat von Futtergräsern, Ausbringung von anorganischem Dünger, Überdüngung mit Jauche verstickstofft. Wildkräuter und Blumen der früheren extensiv genutzten Magerwiesen sind großflächig ausgefallen. In den landwirtschaftlichen Agrarsteppen bleibt neben den windbestäubten und für Insekten unattraktiven Gräsern nur mehr der kurzdauernde Blühaspekt des Löwenzahns. Und auf den Äckern sieht es fast europaweit nicht anders aus, wenn etwa Raps als Energiepflanze und Mais als Futterpflanze ausgesät werden. Oder Hecken und Feldraine aus der Landschaft gehobelt, Tümpel und Feuchtstellen zugeschüttet, durch Flurbereinigung kleine abwechslungsreiche Grundparzellen in Großflächen für Monokulturen zusammengelegt werden.
Das Artensterben bei den Vögeln
Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts sind (weltweit) 187 Vogelarten ausgestorben. Die große Mahnerin Rachel Carson hat schon 1962 mit ihrem Buch „Der stumme Frühling“ gewarnt. Das Buch ist inzwischen zum Kultbuch geworden. In der Tat, unser Frühling wird immer stummer.
Besonders gefährdet sind die insektenfressenden Vögel auch noch zusätzlich, weil sie Zugvögel sind und dem Winter als futterleere Zeit durch Abwanderung ausweichen. Und ziehende Vögel sind gleich dreifach von den Veränderungen ihrer Lebensräume betroffen: in den Brutgebieten etwa in Europa, unterwegs in den Rastgebieten rund um das Mittelmeer und in ihren afrikanischen Überwinterungsgebieten. Um das Ganze auch etwas zu quantifizieren: Wir reden von etwa 280 regelmäßig ziehenden Vogelarten und etwa 500 Millionen Zugvögeln (M. Glaubrecht, S. 579). Beispiel Kuckuck: Seine Bestände sind allein in Deutschland um mehr als 20 % geschrumpft, regional hat sich die Zahl sogar halbiert, in England sind die Kuckucke zuletzt um beinahe 70 % eingebrochen. Und auch aus den Vinschgauer Wäldern war der allbekannte Kuckuck-Ruf im Frühling 2020 auffallend selten zu hören.