Vor einem halben Jahrtausend, also um 1517, dem Jahr der beginnenden lutherischen Reformation, brodelte es auch in unserem Land, auch hier im Vinschgau, zumal die neuen Ideen wegen der Nähe der Schweiz rasch Eingang fanden. Etwa 20.000 Wiedertäufer forderten eine Neuordnung der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem wurde die Übermacht der Kirche kritisiert, ihr Reichtum und ihre Prunksucht … das klingt nicht ganz unbekannt.
Die Nachkommen leben heute in Nordamerika, in den USA und Kanada, noch immer ganz abgeschieden und ohne Privatbesitz in großen Bauernhöfen, in Brudergemeinschaften von etwa 100 Personen. Sie beten in einem altertümlichen Tiroler Dialekt, singen viel und fühlen sich immer noch als Tiroler.
Auch hier wurden sie grausam verfolgt, wobei der aus Saalen bei Bruneck stammende Hans Pürchner in Kortsch im Etschland gefangen wurde „und von Schergen hingeführt gen Schlanders für den Pfleger, welcher ein grausamer Tyrann war und ihn nur wollt erstechen vor Grimmen“. Das war im Jahr 1555; in einem Hutterischen Lied wird die grausame Folter und Hinrichtung Pürchners besungen und beweint.
Aber bei der Veranstaltung in Schlanders wurden ganz praktische Dinge der Gegenwart besprochen, darüber, dass bei den Hutterern sehr früh geheiratet wird. Dadurch, so wird behauptet, gibt es kaum Probleme mit der Sexualität. Priester gibt es keine, nur einen Vorbeter und Lehrer, der auch die Bibel erklärt. Kein Militärdienst, den verweigern sie, weswegen sie immer wieder mit der staatlichen Behörde in Konflikt geraten sind. Zuerst in Tirol, dann in Mähren, wo sie sich vorübergehend niedergelassen hatten. Weitere Aufenthalte waren Siebenbürgen in Rumänien, Russland, aber erst in Amerika kamen sie zur Ruhe.
Einige Bruderhöfe gibt es auch in England - auch dort wird auf tirolerisch gebetet und gesungen. Trotz einiger Aussteiger nimmt die Zahl der Hutterer ständig zu und nähert sich der 30.000 Grenze. Ihre Geburtenrate ist um ein Vielfaches höher als die der USA oder Kanadas. Geburtenkontrolle kennen sie nicht. „Wia mocht‘s es dos in Europa, dos so wianig Kind‘r hobt‘s?“ erkundigte sich Tim Hofer, der Verwalter der Gemeinde und fügt kopfschüttelnd hinzu „mir wiss‘n nit, wia dos goht“.
Gearbeitet wird in Gemeinschaft, die Stimme der Bibel wird mit Lautsprecher überall hingeleitet, auch in den Stall. Auf das Wort Gottes wird niemals verzichtet und Jesus ist ausschließlicher Mittelpunkt. Keine Heilige, keine Priester, oder anders herum: Wir alle sind Priester. Die Kinder werden daran von frühester Jugend an gewöhnt. Wer studieren will und in eine Stadt ziehen muss, lebt mehr oder weniger abgeschirmt in eigenen Häusern - fast wie im Kloster. Fragen des Zusammenlebens, auch die Ehe betreffend, werden nur von den Männern beschlossen. Frauen haben kein Stimmrecht, haben aber durchaus Einfluss auf ihre Männer.
Technisch sind die Hutterer durchaus mit modernsten Arbeitsgeräten ausgestattet. Es gibt aber kein Fernsehen, keine Computer, kein Radio, kein Handy und all die anderen „Spielereien“. Allerdings auch Kompromisse, zumal diese Gemeinschaften ja auch mit der Wirtschaftswelt verbunden sind und ihre Produkte, Mais, Truthähne und anderes, auf Märkten verkaufen müssen.
Die Hutterer sind Wiedertäufer, das heißt, sie lehnen die Kindstaufe ab. Weil der Mensch nur als Erwachsener und in bewusster Entscheidung Christ werden kann. Aber was ist der Mensch? Damit sind wir bei der Grundfrage nach dem eigenen Ich und - indirekt - auch beim Spiegel. Und darum geht es, nur darum: Wir brauchen keine Spiegel, keine Psychologie, keine Selbsterkenntnis, was immer wir in uns suchen und finden, es ist immer nur Gott.
Um diese äußerst bedürfnislos lebende Religionsgemeinschaft zu verstehen, muss man sich den Luxus vieler Schlösser vorstellen, zum Beispiel den Sonnenkönig Ludwig XIV. in Versailles, der sich vor riesigen Spiegeln als „Gottmensch“ scheinbar ins Unendliche vervielfacht. Sich aufplusternd wie ein bunter Vogel. Absolut in sich selbst verliebt.
Damals, als die reformatorische Bewegung auch unser Land erreichte, gab es überall Sonnenkönige; auch der Papst war in diesem Sinne maßlos eitel, wogegen sich viele einfache Christen aufzulehnen begannen und auch deswegen grausam verfolgt wurden. Damals gab es im Vinschgau etwa 1000 Anhänger, meist arme Leute aus niedrigem Stand.
Hans Wielander