Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Lukas Evangelisten, 18. Oktober 2024
Die Entwicklung der Bartgeier-Population in den Alpen, im Französischen Zentralmassiv und auf der Insel Korsika wird vom Internationalen Bartgeier Monitoring (IBM) und von der Stiftung für den Erhalt des Bartgeiers VCF monitoriert. VCF steht für Vulture Conservation Foundation.
Naturbruten
Während der Brutsaison 2024 haben in den oben genannten Gebieten insgesamt 104 Bartgeier-Paare ein Territorium besetzt. Die Verteilung dieser 104 Bartgeier-Paare war dabei folgende: 10 Territorien in den Ostalpen, 35 in den Zentralalpen, 39 in den Nordwestalpen, 14 in den Südwestalpen, 4 auf der Insel Korsika und 2 im Französischen Zentralmassiv.
Von den 104 monitorierten Paaren sind in der Brutsaison 2024 insgesamt 61 Jungvögel erbrütet und erfolgreich bis zum Flüggewerden aufgezogen worden. Bei 30 Paaren ist die Brut misslungen, 13 Paare haben nicht gebrütet. Für 19 der 104 Paare war es die erste Brut.
Die 61 Jungvögel, welche in der abgelaufenen Brutsaison 2024 ausgeschlüpft und flügge geworden sind, stammen allesamt aus den Alpen. Die 4 Bruten auf Korsika und die 2 Bruten im Französischen Zentralmassiv sind misslungen.
Freilasssungen
Die Freilassungen nicht ganz flügger Junggeier aus Zoo- und Gehegezuchten in künstliche Horstnischen wurden auch 2024 fortgesetzt. Insgesamt konnten 2024 18 Junggeier (14 Weibchen und 4 Männchen) aus 9 verschiedenen Aufzuchtsorten und Projektpartnern freigelassen werden. Die 7 Freilassungsorte waren heuer: Melchsee-Frutt (CH), Tinenca di Benifassa (Spanien), Baronnies (Frankreich), Korsika (F), Grands Causses (F), Nationalpark Vercours (F) und Berchtesgaden (D). Die Schwerpunkte der Freilassungen lagen damit in den nördlichen Voralpen, in den Westalpen und auf Korsika. Die Idee hinter dieser Standortwahl ist, die genetischen Flaschenhälse zu verbreitern und damit Inzucht zu vermeiden, und die Brücke zwischen den Bartgeier-Populationen in den Alpen und in den spanischen Pyrenäen wieder herzustellen. In den Pyrenäen ist der Bartgeier nie ausgestorben.
Weltweit ist der Bartgeier eurasisch verbreitet bis in die zentralasiatischen Steppen. Auf den anderen Kontinenten kommt er nur in Afrika und zwar in Äthiopien und in Südafrika vor. Auf den Inseln im Mittelmeer und in der Ägäis leben Bartgeier nur auf Korsika und auf Kreta.
Die Entwicklung des Bestandes
Mit 61 erfolgreich erbrüteten Bartgeiern aus Naturbruten war die Anzahl der Naturbruten im ablaufenden Jahr 2024 erfreulicherweise über dreimal so hoch wie die Zahl der Freilassungen aus Zoozuchten (19).
Nachdem der letzte Bartgeier in den Alpen 1930 abgeschossen worden war, hat 1986 das Wiederansiedlungsprojekt begonnen. Der Nationalpark Stilfserjoch hat sich in den Jahren 2000 bis 2009 am Projekt mit der Freilassung von 11 Junggeiern in die künstliche Horstnische im Schludertal in Martell beteiligt. Die erste Naturbrut in den Alpen ist 1997, 11 Jahre nach der ersten Freilassung erfolgt. Bartgeier sind bekanntlich Winterbrüter: Im ausklingenden Winter ist das Nahrungsangebot aus Fallwild am größten. Bartgeier sind Knochenfresser und Aasverwerter (Nekrophagen). Mit ihrer aggressiven Magensäure, die im pH-Wert der Salzsäure gleichkommt, können Bartgeier die Kalksubstanz von Röhrenknochen auflösen und sich das fett- und eiweißreiche Knochenmark erschließen. Diese Ernährungsform ist eine Nische, die sich die Bartgeier im Laufe ihrer Evolution exklusiv erschlossen haben.
Brutbiologie
Bartgeier-Weibchen legen nur zwei Eier je Brut. Die Eier werden abwechselnd von Weibchen und Männchen bebrütet. Die Abwechslungen zur Bebrütung erfolgen unter den beiden Paarpartnern innerhalb von wenigen Sekunden, damit die Eier in der Winterkälte nicht erkalten. Die beiden Eier werden im Abstand von sieben Tagen gelegt, aber deren Bebrütung erfolgt schon vom ersten Ei an fest und nicht erst, wenn das Gelege voll ist. Wenn beide Eier befruchtet waren, schlüpft daher das erste Junge sieben Tage vor dem zweiten. Dieser Altersunterschied verschafft dem Erstgeschlüpften einen Entwicklungsvorsprung. Damit nicht genug: Das größere, weil ältere Junge hackt das kleinere, jüngere mit Schnabelhieben und tötet es. Dieser Geschwistermord wird in der Verhaltensforschung Kainismus genannt nach dem Bruderpaar Kain und Abel in der Bibel. Beim Bartgeier ist der Kainismus obligatorisch, beim Steinadler fakultativ: Auch Steinadler legen nur zwei Eier, in Jahren mit guter Futterversorgung ziehen die Steinadler aber beiden Jungen auf, in schlechten Futterjahren nur eines. Bei den Bartgeiern wird unabhängig vom Nahrungsangebot immer nur ein Junges aufgezogen.
Die Bartgeier in Südtirol
Für 2024 gibt es zu den Bartgeiern in Südtirol Erfreuliches zu berichten: In Laas und im Passeiertal haben sich zwei neue Brutpaare gebildet. Beide Paare sind 2024 auch zur Brut geschritten. Ihre jeweils erste Brut war aber leider noch nicht vom Erfolg belohnt. Auch im benachbarten trentiner Rabbital hat sich 2024 ein neues Paar gebildet. Dieses hat gleich auch im ersten Versuch erfolgreich gebrütet.
Somit gibt es in Südtirol (Stand 2024) jetzt 7 brütende Bartgeier-Paare. Die Paare Reschen, Planeil, Trafoi, Schnals und Martell haben 2024 allesamt erfolgreich gebrütet. Das Marteller Paar brütet seit 2015 und hat seither aus allen 10 Bruten sein Junges erfolgreich zum Ausfliegen gebracht.