Kultur: Wie wir schützen, was wir schätzen

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Hans Heiss, Historiker und ehemaliger Landtagsabgeordneter der Grünen Hans Heiss, Historiker und ehemaliger Landtagsabgeordneter der Grünen

Im Mittelpunkt der 28. Marienberger Klausurgespräche vom 21. bis 23. März 2024 stand das Thema „Bedrohte Demokratie. Wie wir schützen, was wir schätzen“. Es referierten: Jean Asselborn (ehemaliger Außenminister von Luxemburg), Elisabeth Kapferer (Politologin und Armutsforscherin an der Universität Salzburg), Wolfgang Kraushaar (em. Professor am Hamburger Institut für Sozialforschung), Eva Linsinger (Journalistin beim Nachrichtenmagazin „profil“), Helmut Reinalter, (Historiker und Leiter des Instituts für Ideengeschichte an der Uni Innsbruck).

 

Eröffnet wurden die Marienberger Klausurgespräche mit einem Referat von Hans
Heiss, dem Historiker und ehemaligen Landtagsabgeordneten der Grünen. Sein Referat gekürzt von Heinrich Zoderer.

 

Der Titel des Referates:

„Abgehängt? Rückzugsgefechte der Demokratie in Italien & Südtirol“

Es gibt drei Fragen, die sich uns unweigerlich stellen: 1. Steht Demokratie der unaufhaltsame Abstieg bevor? 2. Hat sie gegenüber Autokratien überhaupt noch Chancen? 3. Droht ihr mit der eben vollzogenen Putin-Wahl und dem drohenden Durchmarsch Trumps nicht das baldige Aus?

Sicherheit, Stabilität, Souveränität, die drei Großen S

Die Wahlbeteiligung sinkt italienweit, ob jüngst bei den Regionalwahlen in Sardinien oder den Abruzzen auf 52%, in Südtirol auf 70%. Es ist weniger der Wunsch nach demokratischer Kloster MarienbergGestaltung, der die Leitwerte bestimmt, sondern die Hoffnung auf die drei großen S: Stabilität, Sicherheit und Souveränität. Diese Ziele haben Vorfahrt: Stabilität der Wirtschaft und sozialen Entwicklung, Sicherheit der Lebensverhältnisse, Souveränität im Sinne begrenzter auswärtiger Einflüsse.
Daher finden in Italien die Kräfte, die für die drei Leitwerte stehen, starke Zustimmung: die Polizei, der Staatspräsident und der Heilige Vater. Gemeinde, Kirche, EU und Gerichte halten mit je 37-39% auf deutlich schwächerem Level. Gewerkschaften und Banken halten einen Vertrauenssockel von 20–24%. Parteien und Parlament genießen nur mehr 12-19% Vertrauen. Die Gründe für den schleichenden Legitimitätsverlust von Demokratie, die wachsende Skepsis in Italien und Südtirol liegen auf der Hand: Vielen erscheint sie begrenzt tauglich zur Bewältigung von Krisen, die im letzten Jahrzehnt im Westen geballt auftreten. Nach mühsam überwundener Finanzkrise 2008–2011 erlebten Europa und USA ein halbes Jahrzehnt, in denen man den Eindruck gewinnen könnte. „Läuft doch!“ Aber nichts da: Bald nach der 2015/16 einsetzenden Migrationskrise folgte 2020 die Pandemie, dicht darauf der Ukrainekrieg 2022, im Oktober 2023 der Hamas-Terrorangriff auf Israel mit anschließendem Gaza-Horror. Migration, Corona und Kriege sind ein wahres Manna für populistische Formationen.

Der Druck der „Hyperpolitik“ verändert die drei P

Die Bündelung von Krisen wirkte wie ein Brandbeschleuniger und die Szenarien werden sich in Kettenreaktion weiter vermehren. Krisen und Belastungen bleiben auch künftig in Europa, erst recht in Italien und sogar in Südtirol, der Normalzustand, der sich stetig verschärfen wird. Verschärfend kommt hinzu, dass klassische Gatekeeper der Demokratie, die drei P, Parteien, Presse und People/Popolo, außer Tritt geraten sind. Zunächst die Parteien: Im Parteienspektrum Italiens, bald auch Südtirols, sind die klassischen Volksparteien längst Geschichte, die Pluralisierung, Zersplitterung und Verzwergung der Formationen Fakt. Dagegen sind viele politische Formationen in Italien längst zu Ich AG´s verkommen, ständig in Zerfall und Umbildung, mit ebenso begabten wie eitlen Leadern. Nirgendwo sonst in Europa ist die ständige Umbildung von Parteien, die Umschmelzung politischer Formationen, der Übertritt von Politikern soweit gediehen wie in Italien. In Südtirol ließ ein vergleichbarer Bruch 30 Jahre auf sich warten: Erst 2023 ist die seit 1948 durchgehend regierende Südtiroler Volkspartei vom Hegemon mit dominanten 45–50% auf 35% geschrumpft. Nach außen weiterhin eine stattliche Seniorin, ist sie innerlich marode, geplagt von Gliederschmerzen, Gleichgewichtsstörungen und wachsender Inkontinenz der innerparteilichen Richtungen. Dafür fehlt es nicht an Verbänden, die sich liebevoll um die Leidende legen. Ein weiterer Indikator der SVP-Schwäche in Südtirol ist die schwindende Parteimitgliedschaft, die von früher unfassbaren 80.000 oder 20% der Gesamtbevölkerung auf nur mehr 3% bzw. 15.000 geschrumpft ist.
Zum zweiten P: Zusätzlicher Krisentreiber ist die Auflösung der klassischen Öffentlichkeit seit 30-40 Jahren, der Positionsverlust von Presse und Rundfunk, rapide verstärkt durch die Dampfwalze der Sozialen Medien. Die davon zunächst erhoffte Demokratisierung ist steter Desorientierung gewichen. Die Beschleunigung von Medien und Politik treibt die Verkürzung von Sachverhalten voran, in krassem Gegensatz zu ihrer wachsenden Komplexität: Denn Themen wie Pandemie, Migration und Krieg sind in ihrer Bündelung von Ursachen, Abläufen und Folgen komplex, schwer erschließbar und wirken umso bedrohlicher. Selbstsicher vorgetragene Absurditäten und Attacken schaffen politische Einstellungen und Orientierung. Hannah Arendt hebt als wichtige Eigenschaft von Demokratie hervor: „Die Fähigkeit, das konkrete Andere zu denken“, also Alternativen zu suchen, sie zu akzeptieren oder im Verständnis für Anderes und die Anderen zu agieren. Genau diese Fähigkeit aber wird von Plattformen ausgehöhlt, erodiert und vielfach zerstört. Schließlich hat sich auch das dritte P, P für People/Popolo, oft abgemeldet. Der Demos als Träger der Demokratie ist in Italien vielfach absent, politische Indifferenz, Apathie und Abneigung nehmen zu. Längst hat sich die Massenbewegung der Nichtwähler oder Wahlfernen formiert. Die Quote jener, die Parlaments-, Regional- und Gemeindewahlen fernbleiben, liegt bei 40%. Es schwindet das Interesse an Partizipation, am Einstieg in mühsame politische Aktion auf der Ebene von Zivilgesellschaft, von Kommunal- oder Regionalpolitik. Während der Einsatz in Vereinen und Freiwilligenorganisationen in Italien nach jüngsten Erhebungen auf beachtlichem Level von 45% liegt und das Interesse an Online-Petitionen auf knapp 40% angewachsen ist, ist die Beteiligung an öffentlichen Kundgebungen rückläufig und unter 20% gefallen.

Italien: Auf dem Weg zur postliberalen Demokratie - Gleichgewichtsstörungen in Südtirol
In Italien hat die aktuell regierende Rechte die Gunst der Stunde im Fluge ergriffen und nimmt die Umgestaltung von Demokratie in Angriff. Parlamente und Parteien sollen weiter entmachtet werden, zugunsten der Leadership der Exekutive. Die geplante Direktwahl des Ministerpräsidenten oder der -präsidentin ist der Königsweg dazu. Die bisher hohe Autorität des Staatsoberhaupts geriete gegenüber dem oder der Premier deutlich ins Hintertreffen. Kern und Angelpunkt der Demokratie in Südtirol, sind fünf Faktoren: die italienische Verfassung, das Autonomiestatut, die Südtiroler Volkspartei, das Medienhaus Athesia und als Fünftes die lange Zeit ebenso leichtgewichtige wie notwendige Opposition. Südtirols Geschichte ist von Etappen verweigerter Demokratie begleitet: Von der Zuteilung der Region an Italien 1919, der Option 1939, der verweigerten Selbstbestimmung 1945. Auch bei der italienweiten Abstimmung über die Staatsform – Monarchie oder Republik – im Juni 1946 blieb Südtirol außen vor. Damit steht hinter dem im Nachkrieg erfolgten Aufbau der Demokratie in Südtirol keine befreiende Erfahrung demokratischer Kraft, sondern die bis heute wirkende Gewissheit unter vielen Bürger:innen, die da lautet:

Demokratie ist wichtig, aber mehr noch zählt der Faktor Macht.


Das Erfahrungsmuster der Vermachtung äußert sich oft in der verbreiteten Kernaussage: „Du konnsch eh nicht tian“, gefolgt vom pragmatischen Satz, der nach Dienstantritt der Regierung Meloni 2022 oft zu hören war: „Iatz loss mer sie halt amol arbeiten“. Folgerichtig sind das Autonomiestatut und die Gestaltung der Institutionen in Südtirol demokratiepolitisch geprägt von einer starken Exekutive, vom Gewicht und Übergewicht der Regierungen in Land, Staat und Gemeinden. Die Figur des Landeshauptmanns ist stärker als italienische Regionalratspräsidenten oder deutsche Ministerpräsidenten. Ihm werden Macht und charismatischer Auftritt nicht nur zuerkannt, sondern abverlangt. Angesichts der exekutivlastigen Grundverfassung und politischen Kultur in Südtirol bedeutet Demokratie hierlands vor allem die Einsetzung und Stärkung der Regierungen. Spätestens seit 2014 aber befanden sich beide, Regierungsmacht und Edelweiß-Basis, im Abstieg. Die lange effektvolle Dialektik zwischen Macht der Exekutive und Stärke der Basis wankte, da beide Seiten, Regierungen und Basis, Jahr um Jahr mehr schwächelten. Als weiteres Defizit hinzu kam das Fehlen befeuernder Visionen und Zielvorstellungen. So ist etwa die Wiederherstellung der Autonomie gewiss ein hehres wie notwendiges Ziel, aber nicht wirklich geeignet, um Bürger:innen zu begeistern. Demokratie im Lande hat mit der jüngsten Koalition ihren Wertehorizont in wichtigen Bereichen eingebüßt. Die Entscheidung der Mehrheit, eine Rechts-Rechts-Rechts-Koalition zu bilden, mag dem SVP-typischen Pragmatismus geschuldet sein, noch mehr aber ist sie Ausdruck einer Beliebigkeit und eines Werterelativismus, der auch altgedienten SVP-Verstehern bitteres Kopfschütteln abnötigt. Demokratie bedarf also nicht nur des Triple S, sondern dreier Antriebskräfte: Sie braucht Werte, Lösungen und Partizipation. Diese drei Aggregate sind in Südtirol ermattet, erst recht in Italien. Sie lassen sich aber wiederherstellen.

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