Nationalpark Stilfserjoch: Rotwildregulierung im Nationalpark - Erfahrungsbericht aus 20 Jahren

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Foto: Andrea Morelli Foto: Andrea Morelli

Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Antonius Einsiedler, „Fackeltöni“, Patron der Haustiere, Fr., 20. Jänner 2020

Zur Erinnerung: Die Ausgangslage
Das staatliche Rahmengesetz über die geschützten Gebiete Nr. 394/1991 verbietet im Artikel 11 Fang, Tötung, Schädigung und Störung von Tieren in Schutzgebieten mit der Klassifizierung Nationalpark. Bis 1983 hatte die Verwaltung des Nationalparks Stilfserjoch die Jagd auf die Huftierarten Rotwild und Reh geduldet und jährlich eine bestimmte Anzahl von Abschüssen dieser beiden Tierarten zugelassen. Auf Rekurs der Artenschutzorganisation WWF Italien erging dann 1983 das Urteil des Staatsrates, mit welchem die Jagd auch auf diese beiden Geweihträger-Arten untersagt wurde. In der Folge wuchs der Bestand des Rotwildes innerhalb des Nationalparkgebietes kontinuierlich auf hohe Dichten. Verbiss-Schäden am Bergwald und an den landwirtschaftlichen Kulturen waren eine der Folgen. Auch die soziale Akzeptanz des Nationalparks schwand ob der massiven Schäden besonders im Bauernstand. Auszäunungen von landwirtschaftlichen Kulturflächen, besonders der Sonderkulturen mit Äpfel-, Gemüse- und Beerenanbau waren im Vinschgau eine Reaktion auf die hohe Rotwilddichte. Durch Gebietswildzäune an der Grenze zwischen Wald und landwirtschaftlich genutzten Flächen wurden die Kulturpflanzen geschützt, aber auch der Wechsel des Rotwildes von den Sommereinständen am schattseitigen Nörderberg über die Talsohle an den Sonnenberg als Wintereinstand weitestgehend unterbunden. Die Naturverjüngung im Wald in Folge der Einengung des Lebensraumes für das Rotwild unterblieb. So wurden beispielsweise die Keimlinge der wertvollen, weil trockenresistenten Weißtanne (Abies alba) im Brugger Wald zwischen Glurns und Taufers im Münstertal jährlich fast vollständig gefressen. Wegen der hohen Dichten und der damit einhergehenden verschärften Nahrungskonkurrenz wurden die Hirsche im Nationalparkgebiet in ihrer Konstitution im Vergleich zu ihren Artgenossen im freien Jagdrevier außerhalb des Parkgebietes immer schwächer, wie der Vergleich der biometrischen Messparameter zeigte. Wildkrankheiten traten auf: 1997 stellten wir an einer Stichprobenbreite von 150 Abschüssen in Laboruntersuchungen post mortem fest, dass etwa im Martelltal ein Drittel der Hirschkälber an Paratuberkulose erkrankt oder Träger der Paratuberkulose waren.

Wissenschaftliche Beweisführung
Als Konsortium Nationalpark Stilfserjoch haben wir 1997 mit der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Dokumentation begonnen, welche die Entwicklung des Rotwildbestandes im Langzeittrend mit ihren Folgen aufgezeigt hat. Aus der Auswertung der langjährigen Zählreihen und der Raumnutzung besenderten und telemetrierter Hirsche wurde beweisbar, dass die Rotwilddichten seit dem Jagdverbot 1983 im Nationalpark in bestimmten Mikroregionen des Nationalparks auf 10 und mehr Stück je 100 Hektar Lebensraum angewachsen waren. Diese hohen Dichten wurden besonders auch dort als drückend und inakzeptabel empfunden, wo, so wie im Vinschgau, die Berglandwirtschaft noch intakt und erhalten geblieben war. Nach den drei Analysejahren 1997-99 konnte der Nationalparkrat einen Managementplan für das Rotwild beschließen und dem Umweltministerium vorlegen. Der vorgelegte Mehrjahresplan sah ein mehrteiliges Maßnahmenpaket vor, das neben lebensraumverbessernden Eingriffen auch die Reduktion der Rotwilddichte durch herbstliche Abschüsse beinhaltete. Am Vinschgauer Nörderberg und in den Seitentälern sollte die Dichte von 9,7 Stück Rotwild je 100 Hektar auf 4-5 St./100 ha halbiert werden. Diese Dichte von 4-5 St./100 ha ist in der forstwirtschaftlichen Erfahrung und Fachliteratur als jene indiziert, bei der noch eine Naturverjüngung des Waldes stattfindet und damit die unverzichtbare Schutz- und Nutzfunktion des Bergwaldes mittel- und langfristig erhalten bleibt. Der vorgelegte Managementplan erhielt das fachlich positive Gutachten des nationalen wildbiologischen Institutes (vormals NISF, heute ISPRA) als wissenschaftliche Referenzinstitut des Umweltministeriums.

Beginn der Entnahme
Im Herbst des Jahres 2000 haben wir als Konsortium Nationalpark Stilfserjoch mit den Rotwildentnahmen durch Abschüsse im Vinschgauer Parkanteil begonnen. Begründung und Ziel dieser Entnahme war die Wiederherstellung des verloren gegangenen Gleichgewichtes zwischen der Anzahl der Hirsche und dem für sie verfügbaren Lebensraum. Die Erhaltung dieses Gleichgewichtes ist neben Wildkrankheiten die im Staatsgesetz 394/1991 zulässige Ausnahme im Eingriff bei Wildtieren in Nationalparken. Nach dem positiven Gutachten des wildbiologischen Institutes zu unserem mehrjährigen Managementplan hat das Umweltministerium in den ersten Erfahrungsjahren die Abschüsse nur geduldet und nach der seriösen Arbeit und Dokumentation schließlich auch amtlich mitgetragen und genehmigt.
Das Staatsgesetz 394/1991 schreibt vor, dass Regulierung und Abschüsse von Wildtieren in Nationalparken vom forstlichen Aufsichtspersonal vorgenommen werden oder von Personen, welche zu diesem Zweck fachlich geschult und ausgebildet werden. Gegen die anfängliche Skepsis des Umweltministeriums haben wir als Verwaltung des Nationalparks Stilfserjoch die in den Nationalparkgemeinden ansässigen Revierjäger in die Entnahmeaktion einbezogen und ihnen das Vertrauen geschenkt. Wir haben sie in einem Ausbildungskurs zur nachgewiesenen Landesjagdprüfung dazu auf dieses Rotwildmanagement vorbereitet und qualifiziert. Anfangs wurde dieser Zusatzkurs auch von Seiten mancher Jäger nur widerwillig akzeptiert. Im Besonderen musste alle Beteiligten klar sein und werden, dass die Entnahmen im Nationalpark nicht der Trophäenjagd, sondern der Bestandsregulierung dienten. Wenn man die Dichte einer Tierart reduzieren will, muss man vor allem auf die weiblichen Populationsanteile zugreifen, um Trächtigkeit und Vermehrung einzugrenzen.
Über die Erfahrung der nunmehr zwanzig Jahre von 2000 bis 2019 traue ich mir die Bewertung zu, dass sich die Zusammenarbeit und die Beteiligung der lokalen Revierjäger aus mehreren Gründen bewährt hat. Auch jene Arten- und Naturschutzorganisationen, welche den Einbezug der Jäger grundsätzlich ablehnten und Rekurs gegen den Abschuss der Hirsche beim Autonomen Regionalen Verwaltungsgerichtshof Bozen und nach für sie negativem Urteil auch Rekurs beim Staatsrat in Rom eingereicht hatten, waren dann von der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit des Rotwildmanagements bei der bewiesenen Ernsthaftigkeit aller Verantwortlichen und Beteiligten zu überzeugen. Sie haben ihren Rekurs vor dem Staatsrat vor dessen Entscheid zurückgezogen.
Im Jahr 2000 waren wir im Nationalpark Stilfserjoch mit den Entnahmen von Rotwild im Vinschger Parkgebiet Pioniere in der Regulierung einer Tierart in einem Schutzgebiet mit der Klassifizierung als Nationalpark. Nachher sind Nationalparks im Apennin mit der Regulierung des drückenden Wildschweinbestandes auf der Basis von wissenschaftlich begleiteten Managementplänen gefolgt, die das Umweltministerium ebenfalls überzeugen konnten.
Seit 1997 bis 2019 haben wir im Vinschgauer Parkanteil 7.512 Stück Rotwild durch Abschüsse entnommen. Seit wenigen Jahren werden auch Abschüsse in den Mikroregionen Hinterulten und Bormio Valfurva getätigt.

Erkenntnisse und Einschätzungen
Ein Kernsatz der Ökologie ist jener, dass ein Ökosystem umso stabiler ist, je artenreicher es ist. Dabei ist wichtig, dass die Anzahl der Individuen einer Art nicht aus dem Lot geraten darf, weil dies zu Lasten anderer Arten geht. Nach 20 Jahren Erfahrung mit den Managementplänen von Rotwild im Nationalpark erlaube ich mir, nachstehend ein paar Erkenntnisse aus meiner Sicht rotwild 2019zusammenzufassen:
• Wenn eine große Tierart zahlenmäßig explodiert, dauert es zeitlich länger als erwartet, die erwünschte und ökologisch indizierte Dichte wieder zu erreichen: Die angestrebte Rotwilddichte von 4-5 St./100 ha konnte nicht, wie zu optimistisch eingeschätzt, mit einem ersten und einzigen Mehrjahresplan erreicht werden, sondern erst nach 20 Jahren. Um das Gleichgewicht zu erhalten, bleibt das „Abernten“ des Zuwachses weiterhin notwendig.
• Mit der Reduzierung der Dichte hat sich die körperliche Konstitution des Rotwildes verbessert. Die biometrischen Messparameter und die Laboruntersuchungen auf Bakteriosen, Virosen, Fruchtbarkeit und andere Parameter belegen steigende Körpergewichte, gute Konstitution und Fruchtbarkeit sowie Gesundung von Paratuberkulose.
• Der Bergwald erholt sich von den Verbiss-Schäden und kann seiner Nutz- und Schutzfunktion besser genügen.
• Die Schäden an den landwirtschaftlichen Kulturen sind auf ein wirtschaftlich und sozial verträgliches Maß eingegrenzt.
• Mit der Abnahme der Rotwilddichte erholt sich der Rehbestand. Für das Auerwild als Raufußhuhn ist die weniger stark verbissene Strauchschicht als Beerenlieferant in der Herbstnahrung förderlich.
• Die Beteiligung der und die Zusammenarbeit mit der lokalen Jägerschaft hat sich im Großen bewährt. Sie hält der Kritik einer oftmals recht fundamentalistischen Gegnerschaft inzwischen gut stand.
• Die Einschätzung und Hoffnung, dass der zurückgekehrte Beutegreifer und in seinem Bestand wachsende Wolf als Regulator des Rotwildes die Abschüsse von Hirschen erübrigt, ist illusionär. Der Wolf wird zu einem größeren Zerstreuungseffekt der Rotwildpopulation in deren Lebensraumnutzung führen, nicht aber zu einer signifikanten Verminderung der Bestandsdichte. Eine unkontrollierte Entwicklung des Wolfbestandes wird die Almbewirtschaftung gefährden. Die extensive sommerliche Bestoßung der Almen ist und bleibt aber ein wertvoller und unverzichtbarer Beitrag zur Landschaftspflege und zum Erhalt der Biodiversität von Lebensräumen und pflanzlichen und tierischen Arten.

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