Nationalpark Stilfserjoch: Der Vinschger Sonnenberg im Wandel - Eine menschlich bedingte Sekundärsteppe verändert sich

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Der Allitzer Berg, die Kortscher Leiten, Allitz und der Gadria-Schuttkegel von der Jennwand aus. Der Allitzer Berg, die Kortscher Leiten, Allitz und der Gadria-Schuttkegel von der Jennwand aus.

Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Antonius von Padua, 13. Juni 2022

Der Vinschger Sonnenberg ist ein uraltes Siedlungsgebiet. Zahlreiche frühgeschichtliche Funde und Ausgrabungen aus der jüngeren Steinzeit bestätigen ein Siedlungsalter von mindestens 4.000 Jahren. Nach dem Archäologen Hans Nothdurfter erfolgte die nacheiszeitliche Besiedlung des inneralpinen Raumes in einem Dreischritt Jäger - Hirte - Bauer. Zuerst streunten Jäger aus dem südalpinen Raum nur in den Sommermonaten in den Vinschgau ein, dann begannen die Menschen auch Haustiere zu zähmen und wurden zu nomadisierenden Hirten. Für ihre Tiere brauchten sie Weiden. In diese Zeit Jahrtausende vor Christi Geburt fällt die Entstehung der Vinschger Leiten am Sonnenberg: Als die alten Weiden durch Übernutzung karg fielen, brannten die Ureinwohner weiteren Wald ab, um neues Weideland zu gewinnen. Vegetationsgeschichtlich sind die Leiten also eine menschlich bedingte Sekundärsteppe.
Zu sesshaften Bauern wurden die Menschen erst durch den Anbau von Getreide, das Graben von Wohngruben und die Anlage von Wintervorräten.
Das heutige Vegetations- und Landschaftsbild des Vinschgauer Steppenhanges leitet sich ohne Zweifel von einer vormaligen Waldlandschaft her.
Diese Waldlandschaft wurde von den frühen Siedlern durch Rodung und übermäßige Beweidung auf den kargen Steppenrasengürtel herabgewirtschaftet. Autochthoner, bodenständiger Wald ist am Leitenhang nur der Lärchen-Zirbenwald oberhalb der Dauersiedlungsflächen der Höfe, die auf den Trogschultern der eiszeitlichen Gletscher entstanden sind.
Der Vinschgau ist eine inneralpine Trockeninsel, welche aus den Atlantiktiefs selten Regen bekommt, weil der Alpenhauptkamm wie ein riesiger Regenschirm wirkt und die Niederschläge im Oberinntal fallen. Da neben der Niederschlagsarmut auch die Beweidung der Leiten hauptsächlich durch Schafe seit Jahrtausenden anhält, hat sich nach der jungsteinzeitlichen Brandrodung kein park 2natürlicher Wald eingestellt, denn man für diesen Bereich der Alpen als Endstadium einer Vegetation erwarten könnte.

Von der Gras- zur Dornstrauchsteppe
Weil dornen- und stachelbewehrte Pflanzen wie Berberitze, Sanddorn, Wacholder, Hagebutte oder auch stark filzig behaarte Arten wie die Königskerzen oder Pflanzen mit Bitterstoffen wie der Wermuth von den Weidetieren nicht angenommen werden, die Gräser durch den alljährlichen Weidegang aber zurückgebissen werden, entwickeln sich die Leiten zunehmend von einer Grassteppe zu einer Dornstrauchsteppe.

Folgen erhöhter Erosion: Die Schuttkegel
Die Seitentäler an der Südabdachung der Ötztaler Alpen sind im Vergleich zu den nördlichen Seitentälern dieses Alpenabschnittes kurz und steil. Man vergleiche etwa die Länge des Schnalstales mit jener des Ötztales. Kurze, steile Seitentäler haben ein hohes Erosionspotential. Die Auftürmung der nacheiszeitlichen Schuttkegel im Vinschgauer Haupttal nach immer wiederkehrenden Murabgängen aus den Seitentälern ist das markante und auffälligste Landschaftselement Jahrtausende währender Erosionstätigkeit.

Schutz durch Aufforstung
Sehr früh gibt es in alten Dorfordnungen im Vinschgau Einschränkungen beispielsweise für die Ziegenweide, um Murbrüche und Bodenabtrag auf vegetationsoffenen Flächen etwa nach heftigen Gewittern mit hohen Regendichten möglichst zu unterbinden.
Allein in der neueren Zeit der letzten 150 Jahre sind vier Aufforstungsprogramme für den Vinschgauer Sonnenberg zu nennen. Das erste Aufforstungsprogramm wurde vor dem Ersten Weltkrieg um 1890 von ­Innsbruck aus gestartet, als Südtirol noch zu Österreich gehörte. Damals entscheidet man sich für die Schwarzföhre (Pinus nigra var. austriaca) als trockenresistente Baumart aus dem Pannonischen Raum.
Das zweite Aufforstungsprogramm wird mit finanziellen Mittel des italienischen Staates bestritten. Zeitlich wird es zwischen den zwei Weltkriegen umgesetzt.
Das dritte Aufforstungsprogramm wird ab den 1960er-Jahren vom Land Südtirol realisiert, als die Zuständigkeiten zur Forstwirtschaft noch bei der autonomen Region Trentino Südtirol lagen. Bis zu diesem Programm setzte man weiterhin auf die Schwarzföhre als Hauptbaum der Aufforstung.
Das vierte Aufforstungsprogramm ­Vinschgau lief in den 1980er-Jahren an. Das Land Südtirol erhielt dafür auch Finanzmittel aus der Europäischen Gemeinschaft. Inzwischen hat man die Anfälligkeit der Schwarzföhren-Monokulturen erkannt und setzt mit den sogenannten „Ökozellen“ auf Durchmischung und Umbau des Waldes zu einem Sekundärwald aus Laub- und Nadelhölzern. Vermehrt werden trockenresistente, standortgerechte Baumarten eingebracht wie etwa Flaumeiche, Bergahorn, Birke, Blumenesche, Vogelkirsche, Ulme, Lärche. Wo Wasserzufuhr möglich ist, wird der Anwuchserfolg in den Startjahren durch Bewässerung verbessert. Neue Flächen werden in den Leiten nicht mehr aufgeforstet. In der Fachwelt schätzt man den ökologischen Wert, den die wechselnden Landschaftselemente zwischen offener Steppenlandschaft und geschlossenem Wald für die Biodiversität von Lebensräumen und damit für den pflanzlichen und tierischen Artenreichtum darstellen.

Kiefernsterben
Vor allem seit dem Frühjahr 2017 sticht abschnittsweise eine flächige Braunfärbung des Föhrenwaldes in den Leiten in die Augen. Das Sterben der aufgeforsteten Schwarzföhren ist nicht allein auf den Prozessionsspinner (Thaumatopoea pityocampa) zurückzuführen. Es hat mehrere Ursachen:
• die wiederkehrende Winter- und Frühjahrstrockenheit;
• den Befall durch verschiedene Borkenkäferarten wie den Großen und Kleinen Waldgärtner (Thomicus spec.) und den Sechszähnigen Kiefernborkenkäfer (Ips accuminatus);
• und eben den Befall mit dem Prozessionsspinner als Falter.
Der Kiefernprozessionsspinner hat sich als wärmeliebende Schmetterlingsart mit dem Klimawandel in seinem Areal ausgebreitet und ist von 900 Höhenmeter bis auf 1.300 Höhenmeter aufgestiegen.

Neophyten
Neophyten sind neu einwandernde Pflanzenarten. Thomas Wilhalm, der Kustos für Botanik am Südtiroler Naturmuseum hat für Südtirol zum Stand 2017 173 neu eingewanderte Pflanzenarten erfasst. Der Großteil dieser Pflanzenarten verhält sich unauffällig. Sieben Pflanzenarten sind in Südtirol als „Transformer“ eingestuft. Darunter versteht man Arten, welche Charakter, Lebensbedingungen und Ökologie in einem bedeutenden Teil des Ökosystems verändern. Eine solche Art ist das Schmalblättrige oder Südafrikanische Greiskraut (Senecio inaequidens). Nach ersten Beobachtungen in unserem Land im Jahr 1975 breitet sich dieser invasive Neophyt seit 2010 vermehrt aus. Auf trockenen und offenen Böden ist diese Art Greiskraut sehr konkurrenzstark. Die Vinschgauer Steppenrasen mit ihren warmen Sommern und kalten Wintern bieten ideale Vermehrungsbedingungen. Der Vermehrungszyklus der Pflanze dauert etwa 100 Tage. In einer Vegetationsperiode können zwei Generationen wachsen und reifen. Eine Pflanze kann zwischen 10.000 und 30.000 Samen erzeugen. Die Pflanze enthält Pyrolizidin-Alkaloide, welche für Säugetiere und Bienen bereits in kleinen Mengen hoch giftig sind.
Zur Bekämpfung des Südafrikanischen Greiskrautes wurde auf den Platzerböden (1.150 m MH) in den Leiten oberhalb von Latsch in den vier Jahren 2012-2015 ein Pilotversuch durchgeführt, wobei das Greiskraut abgemäht und ausgerissen wurde. Die Pflanze treibt unterhalb der Sensenführung aus unterirdischen Anteilen neu aus. Der Versuch hat ergeben, dass beim Ausreißen schon nach dem ersten Eingriff im Herbst 97 % der Pflanzen ausgerottet werden können, beim Abmähen 52 %. Ein Ausrotten dieses aggressiven Neophyten ist unrealistisch. Deshalb wird sich seine Bekämpfung auf Nutzstandorte wie Weiden und Kastanienhaine konzentrieren müssen.

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