Kultur: Meine Reise ans andere Ende der Welt

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Fletcher, mein erstes Gastkind und ich Fletcher, mein erstes Gastkind und ich

Und, was machst du nach der Schule?“ Ich habe diese Frage gehasst. Wie so vielen Gleichaltrigen fiel es mir alles andere als leicht, die Entscheidung zu treffen, welchen Weg ich nach der Matura einschlagen würde. Studium? Arbeiten? Reisen? Lange Zeit war ich unentschlossen. Ich wollte etwas machen, was mich im Leben weiterbringen würde, worauf ich aufbauen kann und gleichzeitig das Gefühl habe, etwas Sinnvolles zu tun. Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich für etwas mehr als sieben Monate als Au Pair nach Neuseeland gehen würde, waren sie etwas skeptisch. Besonders mein Vater, der einen schnellen Einstieg ins Studium bevorzugt hätte. Aber ich war fest entschlossen und konnte es kaum erwarten, in den Flieger zu steigen. Als mich meine Familie am 16. September 2019 nach Innsbruck brachte, von wo aus ich mit dem Zug nach Frankfurt fuhr, wusste ich noch nicht, was mich in dem kleinen Land am Ende der Welt erwarten würde.
Neuseeland ist Teil von Ozeanien, besteht aus zwei Inseln – der Nord- und der Südinsel – hat knapp fünf Millionen Einwohner und liegt 18.527 km von Italien entfernt. Ich hatte also einen langen Weg hinter mir, als ich zwei Tage später, am 18. September gemeinsam mit 20 anderen Au Pairs in Auckland landete, wo mich meine Gastfamilie herzlich empfing. Die ersten Tage und Wochen waren aufregend und zogen wie ein Film an mir vorbei. Meine Gastfamilie brachte mich zu ihrem Lieblingsstrand, in die Stadt und stellte mich der Verwandtschaft vor. Sie erzählten mir viel über die Geschichte Neuseelands und den Maoris, den Ureinwohnern der Insel. Ich wurde von Anfang an mit offenen Armen aufgenommen und als Teil der Familie gesehen. Nachdem einige Wochen vergangen s28 0027waren, hatte ich mich an all die neuen Sachen gewöhnt und eine Routine gefunden. Die Betreuung meines Gastkindes Fletcher, der bei meiner Ankunft erst acht Monate alt war, bereitete mir jeden Tag aufs Neue Freude und ich genoss die Nachmittage auf dem Spielplatz, wo er krabbelnd die Spielgeräte zu erkunden versuchte, die regnerischen Vormittage beim Baby-Schwimmen oder in der Bibliothek, bei „Story Time“ und „rhythm and rhyme“. Es dauerte nicht lange und ich konnte jedes Lied fehlerfrei mitsingen. Meine Gasteltern lachten darüber, dass ich mit einem Repertoire an englischen Kinderliedern nach Hause kommen würde und sie behielten Recht. Die Wochenenden verbrachte ich mit meinen neu gewonnenen Freunden. Wir bereisten gemeinsam das Land, verbrachten entspannte Sonntage am Strand, müde vom Feiern am Abend davor, oder gingen wandern. Neuseeland ist ein kleines großes Wanderparadies und ich durfte diese neue Leidenschaft für mich entdecken. Meine Mutter zieht mich damit auf, dass ich dafür einmal um die Welt reisen musste, wo Südtirol in Sachen wandern doch auch einige Möglichkeiten bietet. Trotzdem, Neuseelands Natur ist atemberaubend. Immer wieder konnte ich nur staunen, welche Vielfalt an Naturspektakeln hier Tür an Tür liegen. Kühe und Schafe, die mich immer etwas nostalgisch an Zuhause denken ließen, grasen neben kilometerlangen schwarzen und weißen Stränden, dahinter ein dschungelartiger Wald mit Palmen, Farnen und Nadelbäumen. Besonders die Südinsel beeindruckt mit Bergen und Gletschern neben Seen und dem Meer.
Das Meer und der Strand wurden zu meinem Rückzugsort nach einem anstrengenden Arbeitstag. Während der heißen Sommertage verbrachte ich fast jede freie Minute dort. An einem warmen Sommerwochenende fuhr ich gemeinsam mit meinen Freunden zum Surfen. Auch wenn es nicht auf Anhieb geklappt hat und ich einige Male probieren musste, bis ich endlich auf dem Brett stand und die Welle mich bis zum Strand trug, fand ich schließlich auch am Surfen Spaß.
Mit dem Sommer kamen auch Weihnachten und Silvester. Es war ein ganz schön komisches Gefühl, am 24. Dezember im Meer zu schwimmen, mich am Strand von der Sonne wärmen zu lassen und spät abends mit offenem Fenster und im Wind wehendem Haar, das noch salzig vom Schwimmen war, nach Hause zu fahren. In solchen Momenten war ich überglücklich und konnte mir keinen anderen Ort vorstellen, an dem ich lieber hätte sein wollen. Natürlich gab es auch weniger gute Tage, Tage, an denen ich mir nichts anderes als eine Umarmung von meiner Familie oder meinen Freunden zu Hause gewünscht hätte. Aber meist gingen diese Tag schnell vorüber. Am 25. Dezember früh morgens saß ich also, noch im Pyjama, um den Weihnachtsbaum und staunte nicht schlecht, als ich meine überdimensionale Socke sah, die fast aus allen Nähten platzte weil Santa sie mit Genschenken gefüllt hatte. Ich muss schon zugeben, ich war erleichtert, dass Santa auch an mich gedacht hatte, wo er mich bis zu diesem Zeitpunkt doch nicht wirklich gekannt hatte. Nach der großen Weihnachtsfeier am Nachmittag mit der gesamten Familie brach ich zu einen zweiwöchigen Trip mit meinen Freunden auf. Mit einem Camper Van, den wir liebevoll Felix Oscar getauft hatten, fuhren wir bis an die nördlichste Spitze der Nordinsel, wo wir auch ins neue Jahr hineinrutschten. Ich blickte voller Freude auf die kommenden Monate und war gespannt, was alles auf mich zukommen würde. Kurz bevor ich Ende Januar auf die Südinsel zog, wo ich mit einer neuen Gastfamilie meine restliche Zeit verbringen würde, flog ich für ein paar Tage nach Australien – definitiv ein nicht weniger schönes Land.
Christchurch, wohin ich nach Weihnachten umzog, ist eine relativ neue Stadt, da sie 2011 durch ein Erdbeben fast komplett zerstört wurde. Doch sie hat sich innerhalb kurzer Zeit zumindest vom „physischen“ Schaden erholt. Nur noch die zerstörte Kathedrale im Stadtzentrum und die leeren Plätze, an denen vor dem Beben Häuser standen und die mittlerweile als Parkplätze genutzt werden, erinnern daran. Meine erste Woche in Christchurch war die letzte Woche eines Straßenfestes, das über mehrere Wochen und in der ganzen Stadt verteilt stattfand. Künstler, Sänger, Schauspieler und Akrobaten hielten auf den Straßen ihre Shows ab und trugen dazu bei, dass mir die Stadt schnell ans Herz wuchs.
Die Arbeit bei meiner neuen Familie gefiel mir nicht weniger, da sie etwas abwechslungsreicher war. Für den älteren der beiden Jungs begann mit meiner Ankunft „year two“ an der Schule, da die Sommerferien Ende Januar endeten. Fast alle Schulen in Christchurch schreiben das Tragen einer Schuluniform vor. Als ich ihn zum ersten mal am Nachmittag von der Schule abholte, benötigte ich etwas Zeit um in dem Gewusel von über 100 Kindern, die alle dieselben Klamotten trugen, das richtige zu finden.
Ein besonderes Highlight war es, als mich meine Schwester und mein Cousin im Februar für vier Wochen besuchten. Gemeinsam schauten wir uns die Südinsel an und besuchten gegen Ende der Reise meine erste Gastfamilie in Auckland. Der Höhepunkt unseres Trips war das Tongariro Crossing – eine 19 km lange Wanderung, die an einem Vulkan und türkisblauen Seen entlangführt.
Als sich Mitte März die coronabedingte Situation auch in Neuseeland immer weiter verschlechterte, ging alles sehr schnell. Neuseeland schottete sich von der Außenwelt ab, die Grenzen und Schulen wurden über Nacht geschlossen. Zum ersten Mal wurde mir die Distanz von Zuhause bewusst. Nur wenige Tage nach der Grenzschließung verkündete die neuseeländische Premierministerin, dass auch Neuseeland in 48 Stunden in den „lockdown“ gehen würde. Alle Bürger wurden, wie in Italien auch, dazu aufgefordert, Zuhause zu bleiben und sich selbst zu isolieren. Ich stellte mich also darauf ein, einen Monat lang mit einem Baby und einem Fünfjährigen, den beiden Kindern meiner neuen Gastfamilie, zuhause „eingesperrt“ zu sein. Die ersten Tage in Isolation waren lang, aber dennoch genoss ich es, mehr Zeit mit dem Älteren der beiden zu verbringen, der den Tag normalerweise in der Schule verbracht hatte. Nachdem das Reisen aber immer schwieriger wurde, immer mehr Fluggesellschaften den Großteil ihrer Flüge strichen (meinen inklusive) oder den Flugverkehr ganz einstellten und Flughäfen den Transitbereich schlossen, wurde es für mich immer unwahrscheinlicher, dass ich Ende April ohne Probleme nach Hause zurück können würde. Meine Eltern und ich begannen also, nach einer Alternative zu suchen, damit ich die Heimreise so schnell wie möglich antreten konnte. Ich setze mich mit der italienischen Botschaft in Wellington in Verbindung, schrieb eine E-Mail an einen der Südtiroler Landesräte, mein Vater kontaktierte das italienische Außenamt und telefonierte mit verschiedenen Behörden auf nationaler Ebene aber niemand konnte mir helfen. Währenddessen hatte der deutsche Staat begonnen, seine Bürger aus Neuseeland zurückzuholen und immer mehr meiner deutschen Freunde verließen das Land. Plötzlich fühlte ich mich allein und wünschte mir sehnlichst, dass auch ich nach Hause fliegen könnte. Doch es schien, als würde ich wohl auf unabsehbare Zeit in Neuseeland festsitzen. Nach weiteren ereignislosen Tagen dann endlich die gute Nachricht: Wir hatten einen Flug für mich gefunden. Er war überteuert und hatte einen elfstündigen Aufenthalt in Doha, aber ich hatte wieder Hoffnung, doch noch im April nach Hause zu kommen. Ich packte also meine Sachen und flog zurück nach Auckland zu meiner ersten Gastfamilie, von wo ich meinen Heimweg antreten würde. Der Abschied von meiner Gasfamilie auf der Südinsel war nicht einfach. Wir alle hatten uns nicht wirklich darauf einstellen können, dass ich Neuseeland so plötzlich verlassen würde. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wie man sich von jemanden verabschiedet, den man vielleicht nie wieder sehen wird? Als mich meine Gastmutter weinend in die Arme nahm, mir für meine Hilfe mit den Kindern dankte und ich ins Auto stieg, war von der Vorfreude, nach Hause zu kommen, nicht mehr viel übrig.
Meine letzten Tage in Neuseeland verbrachte ich also in Auckland. Fletcher konnte inzwischen laufen und brabbelte den ganzen Tag vor sich hin. Die Tage vergingen und meine Heimreise rückte immer näher. Am 7. April war es dann soweit. Nachdem ich mich tränenreich von meinem Gastvater und dem kleinen Jungen, der nicht verstand, warum denn plötzlich alle weinten, verabschiedet hatte, brachte mich meine Gastmutter zum Flughafen. Als es dann soweit war und ich vor dem „Kia ora“-Schild („Herzlich Willkommen“ auf Maori) am Flughafen stand, dachte ich an meine Ankunft in Neuseeland zurück. Hätte ich damals gedacht, dass es so enden würd? Nein, definitiv nicht. Meine Gastmutter und ich wussten beide nicht so richtig, was wir sagen sollen. Wir umarmten uns immer wieder, weinten und lachten gleichzeitig. Schließlich verabschiedeten wir uns mit dem für die Kiwis, wie die Neuseeländer sich selbst nennen, typischen „See you later!“ – „Bis später!“.
Als ich schließlich mit rot verquollenen Augen und mein Reisetagebuch fest an mich drückend im Flieger saß, schaute ich aus dem kleinen Flugzeugfenster und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, was vor mir lag. Ein ewig langer Flug und zwei Wochen Quarantäne. Trotzdem war ich erleichtert, dass das lange Bangen, ob mein Flug gestrichen werden würde oder nicht, vorbei war. Da war ich nun, mit meinem neuseeländisch gefärbten Englisch, gebräunt von den beiden Sommern, die hinter mir lagen, und vielen zu erzählenden Erinnerungen und Erlebnissen und flog nach Hause.
Dieses letzte halbe Jahr war etwas ganz Besonderes für mich. Ich habe auf der kleinen Insel am anderen Ende der Welt ein zweites Zuhause gefunden, wo ich zu jeder Zeit mit offenen Armen empfangen würde, und Freunde, die mich auch in Zukunft begleiten werden. Ich musste mich neuen, unbekannten Situationen stellen und habe gelernt, „alleine“ mein Leben zu meistern. Auch wenn nicht alles genau so funktioniert hat, wie ich es mir vorgestellt habe, bin ich trotzdem stolz, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich kann jedem Maturanten und jeder Maturantin nur empfehlen, keine überstürzten Entscheidungen zu treffen und sich die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, was man mit der gewonnenen Freiheit nach dem Schulabschluss machen will.
„Was machst du nach der Matura?“ Die Frage ist zu meiner Lieblingsfrage geworden, weil ich immer noch das Gefühl habe, das Richtige für mich gefunden zu haben!
Vera Lechner

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