In den Sommermonaten nimmt sich der 30-jährige Michl Gruber aus Prad regelmäßig eine Auszeit
von seinem Berufsalltag als Fliesenleger. Sein Sommer-Zuhause ist heuer zum dritten Mal die „Tanaser Stierhütte“,
von wo aus er mit seiner Hündin Luna 180 Jungrinder hütet.
von Magdalena Dietl Sapelza
Michl und sein Hund sind oft wochenlang allein. Denn nur wenige Wanderer schlagen den Weg zur „Tanaser Stierhütte“ auf 2175 Metern Meereshöhe ein. Zu Besuch kommen meist nur Bauern, die sich nach ihren Tieren erkundigen, oder der Tierarzt, wenn er gerufen wird. Das Alleinsein macht dem jungen Hirten nichts aus, ganz im Gegenteil. Er genießt die Ruhe, die abgesehen von Flugzeuggeräuschen in der Ferne, nur von Tierstimmen, Vogelgezwitscher und den Schellen seiner Rinder unterbrochen wird. In der freien Natur fühlt sich Michl wohl. „Do konn i befreit durchschnauf“, meint er. Wenn er bei schönem Wetter ins Tal schaut und den wunderbaren Panoramablick über den Vinschgau und seine Ortschaften genießt, denkt er immer wieder: „Hon i’s do schean.“ Vier Monate ist er sein eigener Herr und tankt nahe der Waldgrenze Kraft. Der Berufsalltag verblasst, genauso wie die Gedanken an seine geliebte Freizeitbeschäftigung das Fußballspielen.
Doch Hirte zu sein ist neben aller Beschaulichkeit und Bilderbuchkulisse ein harter Vollzeitjob. Michl trägt die Verantwortung für 180 Jungrinder, 130 Stück aus dem Dorf Tanas und anderen Orten, sowie 55 Stück von den Berghöfen. Es ist ihm wichtig, dass die Bauern zufrieden sind.
Bei jeder Witterung ist er Tag für Tag zusammen mit seiner Hündin Luna vormittags drei bis vier Stunden lang im weitläufigen Gelände unterwegs. Ständig hält er Nachschau und lotet aus, wo sich die ihm anvertrauten Tiere befinden. Jeden Tag schlägt er einen anderen Weg ein, macht eine andere Runde, um ständig alles im Auge zu haben. Neben dem Proviant im Rucksack hat er regelmäßig auch Salz für die Tiere mit im Gepäck. In Abständen streut er es auf Steinplatten und wacht darüber, dass auch alle Rinder etwas davon abbekommen. Besonders aufmerksam beobachtet er seine Tiere bei Schlechtwettereinbrüchen, bei Gewittern oder Schneefall. Dann treibt er sie in den schützenden Wald. Im Juli und August grasen sie oberhalb der Waldgrenze. Michl betrachtet die Tiere stets mit wachem Auge, um sofort reagieren zu können, wenn sich ein Rind verletzt hat, oder wenn es nicht mehr frisst und kränkelt.
Michl kennt den Klang einer jeden Schelle, den Namen eines jeden Tieres und er weiß, welchem Bauern es gehört. Und er kennt auch die unterschiedlichsten Charaktere. Jedes Tier ist anders.
Neben Rindern, die am liebsten in der Gruppe weiden, gibt es auch Einzelgänger, die eigene Wege gehen und schwerer zu beaufsichtigen sind. „Ma muaß sich mit di Rinder oogebm, norr kriag ma s ’richtige Gspür“, meint er. In der Mittagszeit kehrt Michl in die kleine Hütte zurück. Er kocht sich etwas, wobei er die „Schnellküche“ vorzieht, isst und ruht sich aus. Abends begibt er sich auf einen zweiten etwas kürzeren Kontrollgang und hält nach jenen Tieren Ausschau, die er am Morgen nicht gesehen hat. Dann wartet das Bett. Den Fernsehapparat, den er sich neuerdings zugelegt hat, schaltete er nur selten ein. Wichtiger ist ihm das Radio, das er immer einschaltet, sobald er die Hütte betreten hat. „A bissl brauch i epper decht, dass jemand um miar ummer redet oder singt“, lacht er. Wenn ihn das Bedürfnis überkommt, Menschen zu treffen, dann setzt er sich in den Jeep und fährt für einige Stunden ins Tal. Doch das kommt selten vor.
Sommer auf der Alm
Was bewegt einen jungen Mann monatelang als Hirte in der Abgeschiedenheit der Bergwelt zu leben? Die Antwort liegt wohl in Michls Kindheit, in seiner bäuerlichen Umgebung und den Tieren im Stall seines Vaters , zu denen er eine besondere Beziehung pflegte. Bereits im Alter von sieben Jahren hütete er freiwillig im Sommer die sieben „Heimatkühe“ (Kühe die nicht auf der Alm sind) eines Bekannten in Sulden, bei dem er auch wohnte. Es folgten noch weitere Jahre Sommerfrische mit Kühen am Fuße des Ortlers.
In den Wintermonaten drückte er in Prad die Schulbank. Als 12-Jähriger äußerte er den Wunsch, den Sommer auf einer Kuh- Alm zu verbringen zu können. Sein Vater überredete ihn, doch eine Rinderalm zu wählen, weil es dort weniger anstrengend sei. Michl ließ sich überzeugen und suchte eine solche Alm mit Hilfe einer Radiowerbung. Es meldete sich ein Bauer aus dem Passeiertal und vermittelte ihn auf die „Stierberg Alm“ bei Proveis am Nonsberg. Er lebte sich gut ein und plante wiederzukommen. Doch der Hirte entschied, die Alm im kommenden Jahr nicht mehr zu übernehmen. Das erzählte er bei einem Besuch auf der Alm „Malga Val“ auf Trentiner Seite.
Im Winter, als Michl in der Mittelschulklasse saß, kam der Schuldiener zu ihm und sagte, dass ihn zwei Leute sprechen möchten. Es waren die Betreiber der Trentiner Alm. Da sie nur Michl Namen und seinen Wohnort kannten, suchten sie ihn in der Schule, um ihn zu verpflichten. Michl sagte zu, nachdem daheim alles besprochen worden war. Heimweh plagte er immer nur dann, wenn sich die Eltern und Geschwister nach einem Besuch verabschiedeten, und das nur für kurze Momente. „Eigatla hot`s miar olm guat gfolln“, betont er.
Nach dem Mittelschulabschluss und dem Grundlehrgang in der Berufsschule Schlanders gab’s einige Jahre keine „Sommerfrische“ für Michl. Er begann seine Fliesenleger- Ausbildung, absolvierte die Lehrzeit und wurde vom Betrieb auch als Geselle weiterbeschäftigt. Die Sehnsucht nach dem Almleben ließ ihn jedoch nie los. 2012 gab er als 23-Jähriger ein entsprechendes Inserat auf und bekam sofort Telefon aus Tanas, mit dem Angebot die Jungrinder zu hüten. Er sagte zu und sprach mit seinem Chef. Dieser zeigte sich nicht sonderlich begeistert und bat ihn dann, im Herbst unbedingt wiederzukommen. Und das tat Michl auch. Seither nimmt Michl jeden Sommer seine Auszeit. Nach zwei Sommer bei Tanas, wechselte er zur Aufforstung, die ihn im zweiten Jahr auch auf die Prader Alm führte. Als er dort den Kühen begegnete, war er so bewegt, dass er entschied „I gea wieder af di Olm“. Über Internet fand er eine Kuhalm im Wallis und sammelt dort mit einem Kollegen viele neue Erfahrungen. 2017 kontaktierten in wiederum die Tanaser. Und er übernahm neben den Jungrindern aus dem Dorf erstmals auch jene der Berghöfe.
Hirte von Juni bis September
Das erste Jahr am Tanaser Berg war alles andere als einfach. Er kannte keinen Steig, keine Wasserstelle, er lief über Stock und Stein, ging viele Wege umsonst, kannte weder den Klang der Schellen, noch die Tiere. Doch das änderte sich in kürzester Zeit. Besonders leicht fiel ihm die Unterscheidung der Tiere. Mittlerweile kennt er sich bestens aus und fühlt sich daheim. Jedes Frühjahr freut er sich auf dem Almsommer. Bär oder Wolf hat sich noch keiner zu ihm verirrt und er ist froh, wenn es so bleibt. Einzig ein Murmeltier hat ihm einmal 14 Tage lang neben der Hütte Gesellschaft geleistet, ist dann aber wieder verschwunden.
Michl ist seit dem 1. Juni in der „Sommerfrische“ unter dem „Madatschknott“ und hofft auf eine gute Zeit. „Ma muaß aa Glück hoobm“, meint er. Seine größte Genugtuung ist es, wenn er seine Tiere Ende September alle wieder unversehrt und gesund ins Tal zurück bringen kann.
Tipp: Für eine Rundwanderung bietet sich der „Besinnungsweg Tanas“ an, der rund um die Kirche St. Peter führt - beschrieben in der eingehefteten Wanderbroschüre W10