„Schatzkammer der Gotik – Laatsch, umgeben von Kunst und Verkehr“

Pfarrkirche St. Lucius
Seit kurzem gilt in Laatsch Tempo 30. Die Maßnahme soll dem Durchzugsverkehr Einhalt gebieten – jener täglichen Blechlawine aus Pendlern und Durchreisenden, die sich besonders morgens und abends durch den Ort bahnt, meist ohne mehr als die nächste Kurve und Engstelle im Blick zu haben. Ob das neue Tempolimit tatsächlich eine spürbare Entlastung bringt, bleibt abzuwarten. Dabei gäbe es mehr als genug Gründe, stehenzubleiben, den Blick zu heben, sich umzusehen. Denn kaum jemand vermutet hinter den historischen Mauern ein kulturelles, zum Teil kunsthistorisches Erbe von so außergewöhnlicher Dichte.
Trotz jahrhundertelanger Herausforderungen – Brände, Kriege, Hochwasser, Seuchen, Missernten und klimatische Widrigkeiten – fanden die Menschen in Laatsch stets die Mittel, ihre Kirchen und Kunstwerke zu bewahren, sodass sich beeindruckende Zeugnisse der Kunst, speziell der Gotik, erhalten haben. Laatsch trägt nicht umsonst den Beinamen „Schatzkammer der Gotik“ und hinter unscheinbaren Fassaden verbergen sich wahre Kunstschätze.
Den Ortseingang von Laatsch – und damit auch den Ausgangspunkt unserer kunsthistorischen Wanderung durch das Dorf – prägen zwei Türme: Zum einen der romanische Turm der alten Pfarrkirche, die erstmals im Jahr 1307 urkundlich erwähnt wurde, zum anderen der imposante Pfarrturm der neuen Pfarrkirche die 1910 zu Ehren des heiligen Bischofs und Märtyrers Lucius von Chur geweiht wurde. Die alte Lucius-Pfarrkirche war in ihren Anfängen offenbar recht bescheiden, denn zahlreiche Quellen aus dem 15. Jahrhundert bezeichnen sie lediglich als „capella“. Über die Jahrhunderte hinweg geriet sie mehrfach in die Kritik: So bezeichnete der Churer Bischof die Kirche 1638 im Rahmen einer Visitation als „minderwertiger als alle anderen Kirchen des Dorfes“. Schließlich entschied man sich, unter großen Anstrengungen, auch durch den damaligen Pfarrer Gottfried Grissemann, anfangs des 20. Jahrhunderts zu einem Neubau in neoromanisch-gotischen Mischformen. Die barocken Altäre und die Kanzel wurden von der alten Kirche übertragen und die die Ausmalung erfolgte in den Jahren 1936/37 durch Johann Peskoller. Als wahres architektonisches Juwel thront die Kirche St. Leonhard auf dem felsigen Berghang. Besonders markant ist die gewölbte Durchfahrt unter dem Chor- und Altarraum, durch die bislang die Straße nach Taufers führte. Künftig wird St. Leonhard im Zuge der Tempo-30-Zone umfahren. Die Durchfahrt ist dann nicht mehr erlaubt, was für die Kirche durchaus eine Aufwertung bedeuten könnte. Die im Kern romanische Leonhardskirche wurde 1408 im gotischen Stil über den Felsen hinaus erweitert und im Zuge der Calvenschlacht 1499 so sehr in Mitleidenschaft gezogen, sodass sie 1505 neu geweiht werden musste. Im Turm befindet sich ein historisch wertvolles Glockenpaar des Glockengießers Francesco Sermondo aus Bormio, gegossen 1522 und 1528, das mit seinem unverkennbaren,
eigentümlichen Klang beeindruckt. Bei Unwettergefahr wurden in früheren Zeiten stets die Glocken von St. Leonhard geläutet, um das Unheil abzuwehren. Der Flügelaltar, der der Werkstatt von Hans Schnatterpeck zugeschrieben wird, gehört zu den wertvollsten Arbeiten dieser Kunstgattung in Südtirol. Erwähnens- und sehenswert ist auch die malerische Ausstattung der Kirche: die spätgotischen Fresken am Chorgewölbe sowie die außergewöhnlichen Fresken an der Westfassade im Innenraum, die Szenen aus dem Leben des Heiligen Leonhard von Limoges zeigen. Zudem beherbergt St. Leonhard eine seltene spätromanische Plastik der „Maria lactans“.
Abseits, jedoch keinesfalls an unbedeutender Stelle im heutigen Laatscher Ortsteil Flutsch, steht die Kirche zum Hl. Cäsarius von Arles, übrigens die einzige Kirche in der Diözese mit diesem Patrozinium. Die Kirche, ehemals Pfarrkirche von Flutsch, ist nicht nur ein bedeutendes Zeugnis mittelalterlicher Glaubensgeschichte, sondern liegt auch in unmittelbarer Nähe zu den bei Bauarbeiten zur Beregnungsanlage entdeckten Überresten einer weitläufigen römischen Siedlung, die sich über rund vier Hektar erstreckt. Urkundlich scheint die Kirche erstmals Anfang des 15. Jahrhunderts auf und musste durch die Zerstörung im Jahr 1499 wieder aufgebaut und 1519 neu geweiht werden. Das Herzstück der Kirche bildet der spätgotische Schnitzaltar, dessen Schaffung möglicherweise auf Leonhard Luchsenhofer zurückgeht, einen Landsmann Jörg Lederers. Der Flügelaltar, der die Betrachter mit seiner wieder vollständigen Figurenbesetzung in Staunen versetzt, wurde ebenso mustergültig restauriert wie die Kirche selbst. Der Überlieferung nach wurden die Opfer der berühmt-berüchtigten Schlacht an der Calven bei St. Cäsarius bestattet. Daher galt es in der Vergangenheit unter den Burschen des Dorfes als Mutprobe, die abgelegene Kirche St. Cäsarius zu nächtlicher Stunde aufzusuchen, am Portal zu klopfen und zu rufen: „Ich klopfe hier mit diesem Ring, steht auf ihr Schweizer Tatterling!“
Gleich neben St. Cäsarius liegt ein weiterer, besonderer Ort: nämlich das Quellheiligtum der Hl. Ärztebrüder Kosmas und Damian. Einst sprudelte hier ein Wasser, dem heilende Kräfte nachgesagt wurde, ein Wasser, das „Augen auf hatte“, wie eine mündliche Überlieferung berichtet. Viele Pilger suchten in den Bädern dieses Quellwassers Heilung und im 17. und 18. Jahrhundert erlebte die Wallfahrt zu dieser Kapelle ihre Blütezeit. Zahlreiche Votivgaben zeugen von der einst tief verwurzelten Volksfrömmigkeit. Die Quelle versiegte durch die Errichtung der befestigten und asphaltierten Straße, die oberhalb der Kapelle ins Münstertal führt. St. Cosmas und Damian beherbergte lange Zeit einen kleinen spätgotischen
Flügelaltar, der um 1500 entstand und ein seltenes Beispiel für einen Altar mit nur zwei Figuren im Schrein darstellt. Nach einer mustergültigen Restaurierung steht er heute in der St.-Thomas-Kapelle am Friedhof von Laatsch.
Vielleicht lenkt die langsamere Fahrt nun das Auge endlich auf das, was hier verborgen liegt: eine Fülle an Kunst und Geschichte, die weit über die Mauern der Kirchen hinausstrahlt. In einer Welt, die oft zu schnell vorbeizieht, ist das eine mögliche Einladung, kurz innezuhalten und zu entdecken, was dieses kleine Dorf so besonders macht.