Kultur: Hüter der Vielfalt

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Abschlusstagung des Interreg-Projektes am 25.11.2022 in Glurns. In der ersten Reihe dritte von links: die Projektleiterin Ricarda Schmidt Abschlusstagung des Interreg-Projektes am 25.11.2022 in Glurns. In der ersten Reihe dritte von links: die Projektleiterin Ricarda Schmidt

Der Verlust der Artenvielfalt, der Biodiversität, ist neben der Klimaerwärmung eine der größten ökologischen Herausforderungen. Knapp ein Drittel aller weltweit untersuchten Tiere und Pflanzen sind auf der aktuellen Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation (IUCN) als gefährdet eingestuft. Neben dem Verlust der biologischen Vielfalt, gibt es durch die Globalisierung und Industrialisierung auch einen Verlust der kulturellen Vielfalt. Sprachen von kleinen Sprachgemeinschaften gehen verloren, Arbeitstechniken, Bräuche und vielfältige Formen des Wirtschaftens und Arbeitens in extremen Situationen werden vernachlässigt und vergessen. Die Moderne verdrängt s26 Vielfalt Glurns1jahrhundertealte Techniken und Überlebensstrategien. Gegenwärtig ist die Welternährung zur Hälfte von nur noch drei Nutzpflanzen abhängig: Weizen, Mais und Reis. Und damit nicht genug. Die Standardisierung, Homogenisierung und Ertragsoptimierung hat dazu beigetragen, dass auch die unbeschreiblich große Vielfalt an traditionellen Weizen-, Mais- und Reissorten im Anbau verloren gegangen ist. So langsam gibt es eine Trendumkehr. Immer klarer wird, dass eine nachhaltige Landwirtschaft nach Nutzpflanzen verlangt, die den jeweiligen natürlichen Bedingungen entsprechen, die etwa an das lokale Klima und an die lokalen Böden und die Wasserverfügbarkeit angepasst sind. So langsam wird klar, wie gefährlich es ist, globalen Trends zu folgen, sich von ausländischen Importen abhängig zu machen und nur auf das billigste Produkt zu setzen. Nicht nur in der Kleidung und Ernährung, sondern auch in der Produktion und Verarbeitungsweise setzt man wieder auf alte Traditionen, auf die Vielfalt der Produkte und Arbeitstechniken. Bereits im Jahre 1986 hat der Volkskundler Hans Haid eine Dokumentation über verschiedene Arbeitsformen im Alpenbereich s26 Vielfalt Glurns2unter dem Titel „Vom alten Leben“ herausgegeben. 2014 hat Siegfried de Rachewiltz die 300 Seiten umfassende Sammlung „Flickwerk“ innerhalb der Schriftenreihe des Landwirtschaftsmuseums Brunnenburg, sowie als Arunda 88 herausgegeben. In dieser umfangreichen Schrift wird dokumentiert, dass Flicken, Reparieren und Wiederverwerten zum Überleben im historischen Tirol lebenswichtig war.

Damit altes Wissen und alte Sorten nicht verschwinden

In Museen wird heute gesammelt, in Dorf- und Fachbüchern wird zusammengetragen und dokumentiert. Damit altes Wissen und alte Sorten nicht verschwinden, werden Samenbanken aufgebaut, Bräuche, Lebensweisen und Arbeitstechniken werden geschützt und lebendig erhalten, indem sie zu immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit erklärt werden. Die traditionelle Hirtenpraxis der Wanderweidewirtschaft (international als Transhumanz bekannt) wurde 2019 in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen. Durch das Interreg-Programm „AlpFoodway“ soll die Alpine Esskultur immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe werden. Auch das alte Wissen und die Praxis um die traditionelle Bewässerung in der Landwirtschaft durch Waale soll in die UNESCO Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen werden. Österreich, Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, Niederlande und die Schweiz stellen einen gemeinsamen Antrag. In Südtirol gibt es den „Sortengarten Südtirol“, ein gemeinnütziger Verein, der sich das Ziel gesetzt hat, die Sortenvielfalt der Kulturpflanzen sowie den Artenreichtum der Nutztiere aufzuzeigen und für die Zukunft zu sichern. Durch das Interreg-Projekt „Living Intangible Cultural Heritage“ wurde 2021 und 2022 durch die Projektleiterin Ricarda Schmidt das lebendige Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair untersucht und dokumentiert.

Schatzkammer der Welt: der Saatguttresor von Spitzbergen

Man nennt das Projekt „Arche Noah der Pflanzen“ oder „Schatztruhe biologischer Vielfalt“. Das s26 Vielfalt Glurns3„Svalbard Global Seed Vault“, d.h. Weltweiter Saatgut-Tresor auf Svalbard, ist ein Projekt des Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt zur langfristigen Einlagerung von Saatgut zum Erhalt und dem Schutz der Arten- und Varietäten-Diversität von Nutzpflanzen. Es befindet sich in der Nähe der norwegischen Stadt Longyearbyen auf der zur Inselgruppe Svalbard gehörenden Insel Spitzbergen. Seit der Eröffnung am 26. Februar 2008 wurden nach 10 Jahren über eine Million Saatgutproben eingelagert. Wo früher Braun- und Steinkohle abgebaut wurde, lagern heute in einem eisigen Berg Samenproben verschiedener Nutzpflanzen. Die Samenbank lagert Saatgutproben, die im ewigen Eis zwischen dem Festland Norwegens und dem Nordpol für die Zukunft sicher verwahrt werden sollen. Insgesamt eine Million Saatgutproben von über 5000 Pflanzenarten befinden sich tief im Berg liegenden Bunker und werden dort bei Minus 18 Grad gelagert. Norwegen hat den Saatgutbunker gebaut. Voll ist der Bunker noch lange nicht: Er hat Kapazitäten für 4,5 Millionen verschiedene Saatgutmuster. Dieser Saatgutspeicher ist der größte von weltweit 1.400 Aufbewahrungsanlagen für Saatgut. Seine wichtigste Aufgabe ist die Lagerung einer Mindestanzahl von Saatkörnern der zur Ernährung wichtigen Lebensmittel wie Reis, Mais, Weizen, Kartoffeln, Früchte, Nüsse und Wurzelgemüse, die in einem Katastrophenfall ausgeliefert und nachgezüchtet werden können.

Hüter der Vielfalt – ein Interreg-Projekt Italien/Schweiz

Beim Interreg-Projekt „Living Intangible Cultural Heritage“ wurde von der Projektleiterin Ricarda Schmidt das lebendige Kulturerbe im Vinschgau, Unterengadin und Val Müstair untersucht. Es wurden Gespräche mit Menschen geführt, die sich um das lebendige Kulturerbe verdient machen. Die Gespräche mit den Hüterinnen und Hütern der Vielfalt fanden von Frühjahr 2021 bis Frühjahr 2022 statt. Unter der Leitung von Ricarda Schmidt von Eurac Research wurde eine Wanderausstellung organisiert und über einen Blog die Arbeit dokumentiert. Ein Buch mit der Gesamtdokumentation soll erscheinen. Die Abschlussveranstaltung mit allen Projektpartnern fand am 25.11.22 in Glurns statt. Projektpartner waren die Region Lombardei, die Region Aosta und Polo Poschiavo.

Die Wanderausstellung wurde an folgenden Orten gezeigt:
15.–31. Juli 2022:
Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
06.-07. August 2022:
auf dem Festival „Marmor und Marillen“ in Laas
03.–18. September 2022:
auf den Palabiratagen in Glurns
02.–14. Oktober 2022:
auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava

Heinrich Zoderer

 

Internetseiten:
http://www.sortengarten-suedtirol.it/
https://www.eurac.edu/de/press/lebendiges-kulturerbe-inspiration-fur-eine-zukunftsfahige-lebensweise
https://www.eurac.edu/de/blogs/tags/hueter-der-vielfalt
https://www.alpfoodway.eu/paper/german

 

Beispiele des lebendigen Kulturerbes im Vinschgau, Val Müstair und Unterengadin, die bei der Wanderausstellung gezeigt und beschrieben werden. Nähere Informationen auch im Blog der EURAC über Hüter der Vielfalt.

1. Kräuterwissen: Sammeln, Anbau und Verarbeitung von Wildkräutern: Martha Stieger, Martell
2. Zucht und Ausbildung von Hütehunden: Erna Grüner, Katharinaberg-Schnals
3. Stilzer Pfluagziachn, Klosn und andere Brauchtümer: Roland Angerer, Stilfs
4. Handwerkliches Bierbrauen: Reto Rauch, Martina
5. Filzen: Gaby Famos, Vnà
6. Getreideanbau: Karl Perfler, Tschengls
7. Anbau und Verarbeitung der Edelkastanie: Franz Winkler, Kortsch
8. Anbau und Verarbeitung der Vinschger Marille: Karl Luggin, Laas
9. Bildhauerei und Steinmetzkunst: Elias Wallnöfer, Laas
10. Produktion von Obstbränden: Friedrich Steiner, Mals
11. Anbau und Verarbeitung der Palabirne: Elmar Prieth & Petra Windegger, Glurns
12. Wissen zum traditionellen Samenbau und Saatgutvermehrung: Edith und Robert Bernhard, Burgeis
13. Schrockn: Paul Schwienbacher, Karthaus
14. Sgraffito: Josin Neuhäusler, Susch
15. Streuobstanbau: Elisabeth Prugger & Simon Platter, Tschengls & Eyrs
16. Traditionelle Bewässerung auf der Malser Haide: Roland Peer, Heimatpflegeverein Mals
17. Handweberei: Maya Repele, Santa Maria Val Müstair
18. Weidenflechterei: Irmgard Gurschler-Klotz, Galsaun

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