Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Bartholomäus, 24. August 2022
Das Rotwildmanagement im Nationalpark Stilfserjoch unter Einschluss von herbstlichen Abschüssen kann und muss fortgesetzt werden. Die wissenschaftliche Grundlage dazu bildet ein auf fünf Jahre ausgelegter Managementplan zum Erhalt und zur Regulierung des Rotwildes in den drei geografischen Untereinheiten des Südtiroler Anteiles am Nationalpark. Dieser Mehrjahresplan für den Zeitraum 2022 -2026 ist vom Bozner Faunentechniker Davide Righetti verfasst und vom nationalen Institut für den Schutz und die Erforschung der Umwelt (ISPRA) positiv begutachtet worden. Die Südtiroler Landesregierung hat den Managementplan mit ihrem Beschluss Nr. 514 am 22. Juli 2022 genehmigt.
Die Vorgeschichte
Im Zeitraum 1997-1999 hatten wir als Konsortium Nationalpark Stilfserjoch im Herbst mit Einverständnis des Umweltministeriums im Martelltal jeweils 150-200 Stück Rotwild abschießen lassen, weil aus völlig abgemagerten und verkoteten Tieren berechtigter Verdacht auf Tierkrankheiten bestand. Post mortem wurden die biometrischen Maße der Tiere aufgenommen und die entnommenen Organe im Labor auf 30 verschiedene Bakteriosen und Virosen untersucht. Diese Untersuchungen hatten damals ergeben, dass ein Drittel der Rotwildkälber im Martelltal an Paratuberkulose erkrankt oder Träger von Paratuberkulose war. Es bestand auch die Gefahr, dass diese Krankheit von den Wildtieren während der sommerlichen Alpung auf die Nutztiere überginge.
Das staatliche Rahmengesetz über die geschützten Gebiete Nr. 394/1991 verbietet im Artikel 11, Absatz 3 Wildtiere in Nationalparken zu stören, zu fangen und zu töten. Das Gesetz sieht Ausnahmen nur in zwei Fällen vor: erstens bei Krankheit und Seuchengefahr und zweitens bei nachgewiesenem Ungleichgewicht zwischen der Anzahl einer Tierart und dem verfügbaren Lebensraum.
Neben der Erkrankung an Paratuberkulose war in einigen Untereinheiten des Nationalparks auch dieses Ungleichgewicht zwischen Wilddichte und Lebensraum für das Rotwild gegeben. Es waren nämlich massive Verbiss-Schäden am Baumbestand des Waldes und auch Schäden an den landwirtschaftlichen Kulturen und dabei hauptsächlich in den Dauerwiesen und in den Beerenkulturen zu verzeichnen.
In der Folge wurde während der Präsidentschaft von Professor Annibale Mottana vom Konsortium Nationalpark als damalige Führungsstruktur des Parks für dessen Südtiroler Länderanteil ein erster, auf drei Jahre ausgelegter Managementplan für das Monitoring, die Kontrolle und die Regulierung der Rotwildpopulation in den Jahren 2000 – 2002 ausgearbeitet. Dabei wurden die beiden oben genannten Ausnahmen des staatlichen Rahmengesetzes zum Eingreifen bei Wildtieren in Nationalparken als juridische Grundlage bemüht. Der Plan wurde vom Wildbiologischen Institut (damals INFS – Istituto Nazionale per la Fauna Selvatica) als Referenzinstitut für das Umweltministerium positiv begutachtet. Ein Hauptziel des Planes war die Reduzierung der Rotwilddichte von 10 Stück je 100 Hektaren auf 5 St./100 ha. Das Umweltministerium (mit dem damaligen Minister Edo Ronchi) verfolgte die Umsetzung des ersten Managementplanes mit Interesse, äußerte sich formal aber nicht schriftlich. Der Plan des Nationalpark Stilfserjoch war nämlich das erste Exempel staatsweit für Eingriffe in eine Wildtierpopulation in Nationalparken unter Bemühung der Ausnahmen laut Artikel 11, Absatz 3 des staatlichen Rahmengesetzes.
Nach der Umsetzung des ersten Dreijahresplanes wurden zwischen 2002 und 2021 mehrere Drei- bzw. Fünfjahrespläne erstellt, genehmigt und umgesetzt, ohne dass die angestrebter niedrigere Rotwilddichte vollends erreicht werden konnte.
Im Februar 2016 ist das Konsortium Nationalpark Stilfserjoch als Verwaltungsstruktur für den Nationalpark aufgelöst worden. Kraft einer Durchführungsbestimmung zum Sonderstaut der Autonomen Region Trentino Südtirol und eines eigenen Regionalgesetzes für die Lombardei sind die Verwaltungskompetenzen zum Park vom Konsortium für den jeweiligen Flächenanteil in Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips von Seiten der staatlichen Regierung an die Länder Lombardei, Trentino und Südtirol übergegangen.
Der neue Managementplan 2022 – 2026
In den zwei Südtiroler Untereinheiten des Nationalparks Mittelvinschgau mit Martell und Gomagoi bis Taufers (einschließlich der Abschüsse in den parkangrenzenden Revieren) sind in den Jahren 1997 – 2021 insgesamt 8084 Stück Rotwild durch herbstliche Abschüsse entnommen worden. Im gleichen Zeitraum 1997-2021 wurde in den beiden Mikroregionen ein Gesamtbestand von 28.539 Stück Rotwild gezählt und hochgerechnet. Die Gesamtzahl der Abschüsse in 25 Jahren betrug somit im gleichen Zeitraum 28,3 % des Gesamtbestandes. Vereinfacht ausgedrückt: Ungefähr ein Viertel der Population wurde durch Abschüsse entnommen und die Verbiss-Schäden konnten nur unzureichend gedrückt werden.
Die Abschüsse erfolgten in der Regel zwischen 15. Oktober und 15 (bzw. 31.) Dezember unter Mitwirkung und Beteiligung jener ortsansässigen Jäger, welche sich einem vorausgehenden Einschulungskurs in die Ziele des Managementplanes unterzogen hatten. Wie bereits oben ausgeführt, ist die angestrebte verringerte Dichte des Rotwildes noch nicht erreicht worden und die Verbiss-Schäden im Forst sind weiter gestiegen. Im Jahr 1995 hatte Giorgio Carmignola, damals Mitarbeiter im Südtiroler Landesamt für Jagd und Fischerei, die verbissenen Endtriebe der Waldbäume auf insgesamt 324 Probeflächen der Südtiroler Parkfläche und darüber hinaus im restlichen Vinschgau erhoben. In diesem Jahr 1995 waren die Endtriebe von 61,1 % der Bäumchen über 25 cm Höhe vom Wild verbissen. In den Jahren 2012 – 2014 wurde die Erhebung der Verbis-Schäden an Nadel- und Laubbäumen nach der gleichen Methodik wie 1995 von Anna Bonarda wiederholt. Aus dem Vergleich der Abbildungen (unten) von den beiden Mikroregionen Mittelvinschgau und Obervinschgau erkennt man an der Häufung der roten Felder, dass die Verbiss-Schäden im Wald nicht abgenommen, sondern zugenommen hat.
Im neuen Managementplan für das Rotwild 2022 – 2026 kommen dessen Autoren Davide Righetti, Luca Pedrotti, Stefanie Winkler und Hanspeter Gunsch unter Bezugnahme auf die Felderhebungen von Anna Bonarda zu folgenden zusammenfassenden Schlussfolgerungen:
• Die Naturverjüngung des Waldes hat sich von der ersten forstlichen Erhebung zu den Verbiss-Schäden 1995 zur zweiten 2012 – 2014 verschlechtert.
• In seiner Artenzusammensetzung nach Baumarten hat der Wald durch den Wildverbiss eine selektierende Entmischung erfahren.
• Die Verbiss-Schäden haben sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen des Nationalparks zugenommen.
• Vom Wildverbiss besonders betroffen ist die Weißtanne. Deren Verjüngung durch Naturaussaat unterbleibt im gesamten Untersuchungsgebiet vollkommen. Es gibt keine Jungtannen über 70 cm Höhe mehr. Dies ist insbesondere für den „Brugger Wald“ zwischen Glurns und Taufers zu beklagen. In diesem Wald stockt eine ökologisch und genetisch äußerst wertvolle, inneralpine Varietät der Weißtanne, die besonders trockenresistent ist.
• Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass das Rotwild der Hauptverursacher der Verbiss-Schäden und damit der ausbleibenden Verjüngung des Waldes ist.
• Die Heimweide von Nutztieren und deren Almsömmerung spielen im Vergleich zu den Verbiss-Schäden durch das Rotwild eine untergeordnete Rolle.
Der Wolf kann die Rotwilddichte nicht richten
Zur spontanen Rückkehr und zur Ausbreitung des Wolfes in den Alpen schreibt Davide Righetti in seinem Bericht auf S. 9, dass man aus den bisherigen Erkenntnissen der Wissenschaft vorsichtig feststellen kann, dass der Wolf als Großer Beutegreifer auch bei territorialer Stabilität einer Wolfspopulation kein begrenzender Faktor für die Huftiere unter den Wildtieren ist. Bestenfalls führt die Präsenz des Wolfes zu einer größeren räumlichen Zerstreuung der an bestimmten Orten sehr verdichteten Rotwildpopulation.
Erkenntnisse und Ziele
Davide Righetti und die Mitautoren des Rotwild-Managementplanes 2022-2026 fassen die Erkenntnisse aus den bisherigen 20 Jahren der Rotwildregulierung im Nationalpark so zusammen und bestätigen die Fortschreibung der Ziele auch für den neuen Fünfjahresplan:
• Im Südtiroler Flächenanteil des Nationalparks Stilfserjoch gibt es eine zahlenmäßig sehr konstante, gut altersstrukturierte und räumlich verteilte Rotwildpopulation.
• Das Rotwildmanagement im Nationalpark ist eingebettet in die land- und forstwirtschaftliche Nutzung des Gebietes, das auch Dauersiedlungsgebiete mit geschlossenen Siedlungskernen und Einzelhöfen und deren Wirtschaftsflächen aufweist.
• Die ökologischen Schieflagen durch weiterhin bestehende, zu hohe Rotwilddichten sollen durch die Maßnahmen des neuen Fünfjahresplanes abgefedert werden.
• Die Bewirtschaftung des Waldes soll dergestalt erfolgen, dass der Baumbestand Verbiss-Schäden in Grenzen besser verträgt.
• Auch die immer noch leicht möglichen Sichtungen, die Beobachtungen, Zählungen und Hochrechnungen des Rotwildbestandes bestätigen seine nach wie vor, zu hohe Dichte.
• Durch die regulierenden Zugriffe auf das Rotwild erholt sich der Bestand des Rehwildes.
• Das Rotwild wird aber auch als ein Wert an sich aufgefasst, welcher ökonomischen, sozialen und ökologischen Nutzen auf lokaler und staatlicher Ebene generiert.
• Aufgabe der Parkverwaltung ist es unter anderem, das ökologische Gleichgewicht und die soziale Akzeptanz des Parkes in eine gute Balance zu bringen.
Da der neue Fünfjahresplan zum Rotwildmanagement im Nationalpark viele weitere statistische Angaben über den Langzeitraum 1997 – 2021 enthält, welche meines Erachtens eine breitere Öffentlichkeit und im Besonderen die an den Regulierungsmaßnahmen seit Jahren beteiligten Jäger interessieren, werde ich einem zweiten Zeitungsbeitrag noch einmal auf die Inhalte dieses Fachplanes zurückkommen.