Die Gänge und Speisesäle im Bürgerheim von Schlanders sind großzügig, mit viel Glaswänden angelegt, mit viel Licht und viel Blick ins Freie. Hier fühlt sich der Heimbewohner umsorgt und aufgehoben wie in einem noblen Hotel, mit wohlgelaunter und freundlicher Bedienung.
Zum morgendlichen Frühstück wird viel Landschaft serviert, besonders prächtig mit dem frischen Schnee. Er wird hier unten nicht lange liegenbleiben. Die schöne Aussicht nach allen Seiten ist als besondere Kostbarkeit des Bürgerheimes zu nennen, mit Blick zum „Hasenöhrl“ als Höhepunkt. Ein letzter Gletscher im Gefolge der Ortlergruppe, im äußersten Osten, zwischen dem Vinschgau und dem Ultental!
Hier in der Nähe überquerten schon im Altertum die Menschen mit Eseln auf Saumpfaden, rätoromanisch „asinàrea“ genannt, den Bergkamm. Aus dieser lateinischen Bezeichnung entwickelte sich das deutsch klingende Wort „Hasenöhrl“, wobei die Ähnlichkeit mit einem Hasenohr der Fantasie überlassen bleiben muss.
Die Sache mit dem „Hohen Dieb“, dem 2738 m hohen Felshaufen am wichtigen Vinschgau-Ultner-Rontscher Joch wird je nach Standpunkt verschieden gedeutet. Die Ultner bezichtigten die Vinschger als Viehdiebe und umgekehrt. Jedenfalls hat mir ein Ultner bestätigt, dass es vor allem Ultner Viehdiebe waren, die sich seit jeher regelmäßig mit der wolligen Beute bereicherten.
Ähnliche Vorwürfe gibt es beim Frühstück nicht mehr, wohl aber Erinnerungen an das Leben „auf dem Berg“. So etwa an die Bergschule in faschistischer Zeit, also von 1930 bis 1942, als der Deutschunterricht verboten war. Die Lehrerin für Italienisch musste nämlich darauf achten, dass kein Deutsch gesprochen wurde, natürlich auch nicht geschrieben. Sie wunderte sich sehr, dass die Schrift der Schüler hartnäckig gotische Züge trug. „Ma perchè scrivete sempre con la punta?“ Warum schreibt ihr immer mit diesen spitz auslaufenden Buchstaben? Die Erklärung war recht einfach: Zu hause haben die Kinder Deutschunterricht bekommen und zwar von den Eltern noch immer in gotischer Schrift und so hat sich die Muttersprache sogar im Schriftstil erhalten. Dass es auch heimlichen Deutschunterricht gegeben hat, durfte nicht verraten werden.
Die Italienischlehrer hatten es nicht leicht; meistens waren es Lehrerinnen, die völlig überfordert waren. Unter anderem auch durch die Einsamkeit der abgelegenen Bergschulen.
Und so wurde am Frühstückstisch auch die Geschichte mit dem Adler erzählt. Es war in den Fünfzigerjahren, als es noch viele Bergschulen gab, dass eine Lehrerin den dreistündigen Aufstieg zur Schule nach Außeregg am Schlanderser Sonnenberg machen musste. Es ist leicht verständlich, dass sie alle Ausreden suchte, um diesen Opfergang zu vermeiden. Einmal war es die Krankheit, dann das Wetter und wenn alle Entschuldigungen verbraucht waren, ja dann musste man sich etwas ganz besonderes einfallen lassen: Die Lehrerin erklärte, dass sie auf dem Sonnenberg, ohne Schutz des Waldes, wiederholt von Adlern angefallen wurde... Die Klage wurde gehört, sogar der Alto Adige berichtete von diesem Adlerangriff wie von einem Attentat auf die italienische Nation.
Mittlerweilen gibt es keine Bergschulen mehr, wohl aber die Erinnerungen, die hier im Bürgerheim ausgetauscht werden, von Hof zu Hof, vom Sonnenberg bis zum Nördersberg.
Hans Wielander
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