Simon sitzt wie die anderen 5- und 6-jährigen Jungen und Mädchen des Kindergartens Taufers i. M. im Stuhlkreis und achtet aufmerksam auf die Worte von Erika, der Kindergärtnerin. An diesem Nachmittag üben sie wieder das Wahrnehmen von Lauten, die sog. phonologische Bewusstheit. Sie wissen bereits, dass Ente mit E beginnt und Mama mit M. Heute dürfen sie mehrere dazu passende Bilder in drei Schiffe geben: in das A-Schiff, in das E-Schiff und in das M-Schiff. Alle Kinder lösen die Aufgabe problemlos. Erika erzählt eine spannende Geschichte von den drei Buchstabenschiffen, die eine seltsame Insel erreichen. Der einzige Inselbewohner ist ein Igel, der für die ankommenden Besucher eine „I-gitt“-Suppe kocht. Im Nu sind die Kinder auf das I aufmerksam geworden. Spielerisch schulen sie ihr Gehör, erweitern ihren Wortschatz und ihre sprachlichen Kompetenzen - wissbegierig mit viel Freude und Lernbereitschaft. Diese Fähigkeiten sind eine Voraussetzung für das Lesen- und Schreibenlernen, das bald auf sie zukommt. Sprache und Kommunikation – ein Bildungsbereich im Leitbild des Kindergartensprengels „Schlanders“. In diesen Tagen fällt der Blick auf die Kindergärten von Reschen bis Tschars. Die pädagogischen Fachkräfte laden zum Tag der offenen Tür am 21. Mai ein. Die neuen Konzeptionen geben Anlass dazu. Diese Kindergärten gehören zum Kindergartensprengel „Schlanders“, dem Frau Marianne Bauer als Direktorin vorsteht. Es sind 31 Kindergärten, die 1075 Kinder besuchen. Die Kindergärten sind Orte für ca. drei- bis sechsjährige Kinder, wo sie in Gemeinschaft spielen und lernen. Sie sind Orte, in denen Eltern ihre Mädchen und Buben von pädagogisch qualifizierten Fachkräften betreut wissen. In den letzten Jahren haben sich die Kindergartenfachkräfte des Sprengels auf den Weg gemacht, um eine neue Richtung in der Pädagogik einzuschlagen. Sie haben sich mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit den veränderten Bedürfnissen der Gesellschaft auseinandergesetzt. Nie mehr lernen Menschen so viel wie in den ersten sechs Lebensjahren. Der Kindergarten ist zu einer wichtigen Bildungseinrichtung geworden. In unserer schnelllebigen Zeit gibt es auch in der Pädagogik immer wieder neue Strömungen und es galt, Altbewährtes beizubehalten und Neues einfließen zu lassen. „Mut zum Wesentlichen“ lautet ein Leitsatz von Frau Direktor Bauer, wobei sie die pädagogischen Fachkräfte ermuntert, auf das Wesentliche zu achten. Es geht darum, den Kindern Werte wie Achtsamkeit, Lebensfreude, Verlässlichkeit… und religiöse Grundsätze mitzugeben, um sie für die Herausforderungen des Lebens stark und stabil zu machen. Viele Fortbildungsangebote unterstützten die Kindergartenfachkräfte. Die Fortbildungsreihe „Achtsame Kommunikation“ mit Frau Elke Polzer, religionspädagogische Einheiten mit Franz Kett, „Malen als Ausdruck“ mit Christopher Oberhuemer, „Mit Kindern philosophieren“ und viele weitere. Ausgehend von den Rahmenrichtlinien des Landes hat Frau Direktor Bauer mit einem Team das sprengelspezifische Leitbild „Spielen und Lernen im Kindergarten - Achtsamkeit als Weg“ erstellt. Das Besondere daran ist die Betonung auf die Achtsamkeit, der neue Geist in der Pädagogik. Achtsamkeit als innere Haltung spiegelt sich in allen Bereichen des Kindergartengeschehens wider. Jedes Kindergartenteam hat darauf aufbauend die eigene Konzeption erarbeitet. Das Spiel gilt als Königsweg des Lernens. Mädchen und Buben lernen den Umgang mit dem eigenen Körper, feinmotorisches Geschick, mathematische Fähigkeiten und gewinnen technische und physikalische Erkenntnisse. Im Spiel übt das Kind verschiedene Rollen und Gefühle. Die Beobachtung ist die Grundlage für das pädagogische Handeln. Die Kindergartenfachkräfte beobachten das Kind in seiner Ganzheit, mit seinen Grundbedürfnissen, Interessen und Kompetenzen. Jedes Kind hat eine Dokumentationsmappe, in der sie Entwicklungsschritte, Erkenntnisse und Lernsituationen festhalten. Die kontinuierliche Dokumentation der stärkenorientierten Beobachtung fließt in die Planung der pädagogischen Arbeit ein. Das Erziehungs- und Bildungsangebot wird daraus abgeleitet. Eltern sind wichtige Partner. Eine gute, offene Beziehung zwischen Eltern und Kindergartenfachkräften ist Voraussetzung, dass sich Kinder und Erwachsene wohlfühlen.
Kindergartenfachkräfte pflegen den Kontakt zu den Schülern und Lehrpersonen der Grundschule, um den fünf- und sechsjährigen Kindern einen fließenden Übergang vom Kindergarten in die nächste Bildungsstufe möglich zu machen. In der Konzeption beschreiben die pädagogischen Fachkräfte konkrete Ziele und Maßnahmen zu den Bildungsbereichen wie Sinn und Werte, Sprache und Kommunikation, Mathematik, Natur, gesunde Lebensordnung, Ästhetik-Ausdruck und Entfaltung, Außenspielbereich und Umfeld, Kommunikations- und Informationstechnik-Medien, Technik. Der Bildungsbereich „Sinn und Werte“ hat einen besonderen Stellenwert. Das Kind stellt Fragen nach dem eigenen Leben: „Woher komme ich?“ und „Wohin gehe ich?“; es ist in seiner Weise Philosoph und Theologe. Im Kindergarten leben die pädagogischen Fachkräfte Werte, die das Leben lebenswert machen, ihm Sinn geben. Sie greifen die von den Kindern gestellten Fragen nach dem Sinn und Ziel des Lebens auf. Sie leben religiöse Werte, reichen die Botschaft Christi weiter und feiern religiöse Feste und Rituale im Jahreskreis. Im Gruppenraum gibt es einen Platz mit christlichen Symbolen. Ein besonderer Höhepunkt für jedes Kind ist sein Geburtstag. An diesem Tag steht es im Mittelpunkt und wird gefeiert. Selbstbewusst sitzt Josephine in der Mitte des Kinderkreises auf einem goldenen Kissen und strahlt. Heute ist ihr Geburtstag. Seit elf Tagen zählte sie am Kalender die Tage. Nun ist es soweit: Sie wird sechs Jahre jung, eine stolze Zahl für sie. Der Jahreskalender nach Maria Montessori zeigt die 12 Monate des Jahres an. Josephine weiß: Bereits 6-mal kreiste die Erde um die Sonne seit sie geboren wurde. Dann übereicht ihr jedes Kind einen duftenden Fliederzweig und dazu viele gute Geburtstagswünsche. „Ich wünsche dir, dass du gesund bleibst und dass du viel Licht und Freude im Herzen hast!“, wünscht Alex. Josephines Augen leuchten. Ihr Selbstbewusstsein wird gestärkt, bestätigt. Mit emotionaler Sicherheit wird sie bald in die nächste Bildungsstufe übertreten.
„Offen für neue Bedürfnisse“
„Vinschgerwind“: Am kommenden Samstag findet in allen Kindergärten Ihres Kindergartensprengels ein Tag der offenen Tür statt. Gibt es einen besonderen Anlass dazu?
Marianne Bauer: Ja. Jedes Kindergartenteam präsentiert seine neue Konzeption, die individuelle Besonderheiten im jeweiligen Kindergarten beschreibt. Trotzdem gibt es verbindliche Standards quer durch die Bildungsfelder. Die Philosophie des Leitbildes verbindet alle Kindergärten des Sprengels, die Rahmenrichtlinien des Landes verbinden alle deutschen Kindergartensprengel Südtirols. Mit dem Tag der offenen Tür sprechen wir Eltern und eine breite Öffentlichkeit an.
Wie kamen Ihre Mitarbeiterinnen mit den neuen Anforderungen zurecht?
Ich denke, sie kamen gut zurecht, weil eine gute Vorbereitung stattgefunden hat. In den letzten acht Jahren konnten sie sich intensiv mit der Individualisierung, dem neuen Verständnis von Lehren und Lernen in Fortbildungen und Bildungsfahrten befassen. Bei der Konzeptionserstellung hatte jedes Team drei Jahre Zeit, fachliche Beratung und professionelle Begleitung von Seiten des Sprengels.
Intensive Arbeitsjahre liegen hinter Ihnen. Sind Sie zufrieden?
Ich habe eine große Freude mit den 31 Konzeptionen. Sie sind ein Spiegelbild, wie vielfältig, kompetent und zeitgemäß die Kindergärten sind.
Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie in die Zukunft schauen?
Gemeinsam werden wir auf dem Weg bleiben, offen für neue Bedürfnisse und gesellschaftliche Anforderungen. Mir ist wichtig, dass Achtsamkeit gelebt wird. Die Kinder sollen gestärkt in die nächste Stufe übergehen und gerne an ihre Kindergartenzeit zurückdenken. Immer mehr Menschen werden verstehen, dass Spielen gleich Lernen ist.
Interview: Brigitte Alber