Mein Kollege am Gymnasium von Schlanders, Dr. Leo Pircher aus Göflan, war Lehrer für Physik und Mathematik. Er hat mir die Geschichte seiner Familie erzählt mit der besonderen Rolle seiner Mutter Josefa.
Es handelt sich um die schwierige Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, vor allem um das Problem der geplanten „Option“, worunter die mehr oder weniger erzwungene Auswanderung der Südtiroler verstanden wird: Ein Abkommen zwischen Hitler und Mussolini, um die leidigen nationalen Störungen zwischen Deutschland und Italien zu beseitigen. Man nimmt also die paar Hunderttausend deutschsprachiger „Italiener“ und versetzt sie irgendwo in die neu eroberten Gebiete, die sich zu Kriegsbeginn geradezu anboten. Frankreich oder Tschechien, Polen, später sogar die Halbinsel Krim, je nach Verlauf des Kriegsglückes, also bis zum Jahr 1943. Den Südtirolern, zu denen auch die ladinisch Sprechenden aus dem Dolomitengebiet zählten, wurde die Möglichkeit geboten, ins „Reich“ auszuwandern, wobei ihnen der Besitz abgekauft und entschädigt werden sollte; dort also, in einer neuen Heimat, dürften sie ihre Sprache und Kultur behalten. Wenn sie aber in Italien bleiben wollten - also in ihrer Heimat -, mussten sie auch sprachlich Italiener werden; auf die deutsche Sprache, die ja schon bald nach 1920 in Ämtern und Schulen verboten wurde, musste verzichtet werden. Wer sich dem widersetzte, lief Gefahr, in den Süden, unterhalb des Flusses Po oder nach Sizilien umgesiedelt zu werden. Dies waren die Aussichten. Jedenfalls gab es in dieser verwirrten Situation - besonders nach 1939 - die wildesten Gerüchte. Die Leute wussten also nicht, zwischen welchem Übel sie wählen sollten. Die Heimat verlassen müssten sie jedenfalls. Aber auch das war nicht ganz klar, denn der Besitz hätte ja abgekauft werde müssen mit einer Riesensumme, die gar nicht bezahlt werden konnte.
Ein Bozner Bankfachmann - ein „Dableiber“- hat ernstliche Schwierigkeiten bekommen, weil man auf seinem Schreibtisch eine Berechnung dieser horrenden Summen entdeckte. Es wurde ihm vorgeworfen, gegen die Politik der Diktatoren zu arbeiten.
Der eine der beiden Ungeheuer - und zwar Mussolini - war bei uns so verhasst, dass der Großteil der Südtiroler sich fürs Auswandern ins „Deutsche Reich“ entschied. Dort durfte man zumindest die eigene Kultur behalten und es gab auch verlockende Versprechungen: Große Höfe, gute Arbeit und viele Berufsmöglichkeiten.
Der Vater meines Kollegen, der „Stabner Hans“, der die Faschisten und ihr arrogantes Benehmen aus innerster Überzeugung hasste, entschied sich also für das Auswandern und verließ 1941 mit drei Söhnen die Heimat. Der Rest der Familie blieb in Göflan, zumal die Ehefrau mit den vielen Kindern hartnäckig die „Gefolgschaft“ verweigerte. Also ging er allein, in der Hoffnung, in der neuen Heimat politisch in Ruhe gelassen zu werden. Nach zweimonatlichem Aufenthalt in Innsbruck und viel behördlichem Kram erreichte er endlich den ihm zugeteilten steirischen Hof Wildon in der Nähe von Graz. Das Anwesen ist zwar groß und fruchtbar, war aber damals in einem desolaten Zustand. Arbeitskräfte gab es kaum, es war ja Kriegszeit.
Er ist freiwillig ausgewandert und zwar mit den ältesten Söhnen; nur Ernst hat sich lange geweigert, dem Vater in die Steiermark zu folgen. Die Brüder Franz und Karl wurden sofort zur Wehrmacht eingezogen und sind schon bald „gefallen“. Andere Enttäuschungen folgten. 1944 kehrte das inzwischen verzweifelte Familienoberhaupt nach Göflan zurück, physisch und psychisch total zerstört. Zurück in seinen Hof, den seine tapfere Frau in der Zwischenzeit mit ihrem Bruder, dem „Möltner Sepp“, bewirtschaften konnte. Sie nahm ihren Mann selbstverständlich wieder auf. Er konnte froh sein, dass die „Umsiedlung“ noch nicht gegriffen hatte und dass er immer noch der Besitzer war. Das war ja auch ein finanzielles Problem für den Staat, unmöglich zu bezahlen: Haus für Haus, Hof für Hof, zumal es sich vor allem um zahlreiche „Bergerhöfe“ handelte, die alle abgekauft und bezahlt werden mussten; das war unter anderem auch ein finanzieller Wahnsinn. Schon bald begannen die verschiedensten Spekulationen.
Sie, die Josefa Höller aus Mölten, machte ihrem reumütig heimgekehrten Mann keinerlei Vorwürfe, auch nicht wegen der verlorenen Söhne. Eine selten wertvolle Persönlichkeit. Klarer Verstand, gelebte Religiosität, hilfreich auch für fahnenflüchtige Soldaten, die sie vor den „Kettenhunden“ versteckte; darunter verstand man die Militärpolizei der deutschen Wehrmacht, die nach Desserteuren suchte. Ihr caritatives Verhalten bewies sie besonders auch nach dem Kriegsende 1945 und beherbergte immer wieder in Not geratene Menschen.
Geboren wurde sie 1900 in Mölten und verstarb 1985, brachte 10 Kinder zur Welt, war immer ihre eigene Hebamme, wie sie erzählte, mit eigenem Kindergarten „daheim“. Auch eine Katakombenschule befand sich auf dem ehrwürdigen Stabnerhof. Dabei wurde heimlich auch Deutschunterricht gegeben; rechnen und schreiben wurde noch mit Griffel und Schiefertafel geübt. Geheimer Unterricht des alten Lehrers Zuegg, der „mit den weißen Haaren“, wie sich der Sohn Leo an jene Zeit erinnert.
Was aber den größten Eindruck macht, das ist die schwangere Frau Seffa. Die sich vor den schimpfenden Nazifunktionären nicht beugt, weil sie ein stärkeres Argument als die politischen Wichtigtuer in sich trägt: ein Kind.
Es wurde bald darauf geboren, auf dem Stabnerhof, hinter den beiden kleinen Kirchen, hoch über Göflan.
Hans Wielander