Hans Rungg, geboren in Mals, aufgewachsen in Prad, wohnhaft in Goldrain, arbeitet seit 1992 in Schlanders für den Autonomen Südtiroler Gewerkschaftsbund ASGB. Rungg ist seit 1979 Gewerkschafter und er ist in der dritten Periode im Gemeinderat von Latsch vertreten. Als Kenner der Arbeitswelt, der Sorgen und Nöte der Arbeitnehmer zeichnet Rungg im „Wind“-Gespräch eine Momentaufnahme, fordert zu mehr Offenheit und zu mehr Europa auf. Rungg fordert eine Debatte über eine neue Gesellschaftsordnung.
Vinschgerwind: Herr Rungg, mit welchen Problemen kommen die Leute zu Ihnen?
Hans Rungg: Mit allen möglichen Problemen. Wenn jemand einen Brief nicht versteht, wenn jemand zu Hause Probleme hat, natürlich bei Problemen bei der Arbeit. Die Gewerkschaft ist für viele Leute eine Anlaufstelle für alles.
Wenn Sie aus der Summe dieser Probleme ein sozial-politisches Bild vom Vinschgau skizzieren müssten, wie würde diese Momentaufnahme aussehen?
Die Leute haben viele Fragen vor allem, was den Arbeitsplatz betrifft. Sie brauchen jemand, der ihnen hilft, durch die Bürokratie zu kommen. Für alles, was man als Arbeitnehmer/in, als Rentner zusätzlich haben kann, gibt es viel Zettelwirtschaft. Die Gewerkschaft ist natürlich erste Anlaufstelle für Lohnabhängige.
Machen Sie sich, aufgrund Ihrer Erfahrung, Sorgen um Arbeitsplätze im Vinschgau?
Ja, die habe ich. Ich betreue seit letzter Zeit zwar vorwiegend den öffentlichen Dienst. Aber ich sehe auch, dass die Bauwirtschaft stark zurückgegangen ist. Das merkt man auch bei der Anzahl der Ansuchen in der Baukommission. Im öffentlichen Dienst wird auf Kosten der Bediensteten ungeheuerlich gespart. Seit 2008 haben die Bediensteten im Wesentlichen keinen Inflationsausgleich mehr erhalten. Arbeitsplätze werden eingespart. All das wirkt sich natürlich stark aus.
Was sagen Sie zum Aufnahmestopp im öffentlichen Dienst?
Es gibt einen Aufnahmestopp, es wird gebremst. Man spürt in letzter Zeit, dass befristete Arbeitsverträge nicht mehr verlängert werden. Das ist für die Betroffenen durchaus ein Schock, da man bei uns immer geglaubt und bestätigt bekommen hat, wenn man nur einen Fuß beim Land oder bei den Gemeinden drinnen hat, ist man praktisch fix. Da gibt es schon oft dramatische Sachen. Der öffentliche Dienst ist ein Bereich, in dem viel mit befristeten Arbeitsplätzen gespielt wird.
Den Leuten wird dadurch keine Zukunftsperspektive geboten.
Das ist sicher. Die Leute können so nicht längerfristig planen. Ich bin der Meinung, dass im öffentlichen Dienst befristete Arbeitsstellen nicht sein müssten. Oft fehlen einfach die Begründungen. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen Stadt und Land.
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft: Es ist noch nicht so lange her, dass Gewerkschaften bei den Kollektivverträgen im öffentlichen Dienst mitreden. In der Privatwirtschaft ist das eine Tradition von rund 150 Jahren. Und in Südtirol spüren wir immer noch den Faschismus: Dieser hat die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Südtirol unterbrochen. Heuer im Sommer vor 90 Jahren wurde das Gewerkschaftshaus von den Faschisten besetzt. Das wurde total vergessen. Man merkt einfach, ein konservatives, ein bisschen liberales Land sind, aber nicht sozialdemokratisch und auch nicht christlich-sozial.
Sie sagen, die gewerkschaftliche Mitbestimmung bei Kollektivverträgen im öffentlichen Dienst ist noch nicht so alt. Aber es gibt eine große Kluft zwischen öffentlich Angestellten und Angestellten in der Privatwirtschaft. Stichwort Elternzeit. Diese Diskrepanz wird immer stärker als Ungerechtigkeit gefühlt.
Da besteht eine Kluft. Ich merke aber, dass im öffentlichen Dienst vermehrt auf die Möglichkeit zurückgegriffen wird, wo noch etwas Geld herausschaut, auf Kosten von weniger „Zuhausebleiben“.
Wie könnten Sie sich vorstellen, diese Kluft zu schließen?
Da braucht es die Möglichkeit, dass wir in Südtirol größere Zuständigkeit im Arbeitsrecht erhalten, und auch bei Kollektivverträgen. Dann könnten Politik, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Südtirol mehr gestalten. Vom Gehalt her gesehen ist zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft kein großer Unterschied. Im öffentlichen Dienst sind Kollektivverträge Maximalregelungen, im Privatsektor Mindestregeln. Der Private kann also freiwillig mehr geben. Der öffentliche Arbeitgeber hat auf die Gehaltsentwicklung Einfluss etwa über eine Beurteilung des Bediensteten.
Nehmen wir als Beispiel aus der Privatwirtschaft die Hotellerie: Dort wird vermehrt auf ausländische Arbeitskräfte zurückgegriffen. Ist das eine Art modernes Sklaventum?
Modernes Sklaventum ist etwas übertrieben. Wie in ganz Europa ist es auch bei uns so, dass Leute Arbeiten abdecken, die um jede Arbeitsstelle froh sind. Das drückt auf die Löhne. Es werden Kollektivverträge nicht eingehalten. Es gäbe die Gewerkschaften nicht, wenn es nicht auch Leute gäbe, die Regeln hintergehen. Berufsgruppen, in der Gastwirtschaft etwa, wie Köche oder ausgebildete Kellner, die bekommen ihren Gehalt und auch mehr, als es der Kollektivvertrag vorsieht. Andere Gruppen bekommen oft nicht das, was ihnen zusteht.
Als „Tuttofare“ etwa?
Einen „Tuttofare“ gibt es im Regelwerk eigentlich nicht, aber einen Abspüler, einen einfachen Kellner usw. Möglichkeiten der Unterbezahlung gibt es viele: keine oder weniger Überstunden auszahlen, Urlaubstage eintragen, ohne dass sie genossen werden, den Lohn verspätet ausbezahlen.
Laut dem Arbeitsförderungsinstitut AFI sagen 38 % der Arbeitnehmer, dass sie Schwierigkeiten haben, weil das Geld nicht bis ans Monatsende reicht.
Wenn man auf der anderen Seite feststellt, wie niedrig die Renten in unserem Lande sind, kann man sich vorstellen, wie hoch der Lohn oder der Gehalt ist. Der Rentenbeitrag wird auf der Basis des Bruttogehaltes eingezahlt. Die Bruttogehälter müssen, gemessen an den ausbezahlten Renten, demnach niedrig sein. Geht man von einem Bruttogehalt von 1800 bis 2000 Euro aus, bleiben nach den Abzügen der Beiträge, Abgaben und Steuern noch rund 1200-1400 Euro netto übrig.
Das heißt, dass das heute gespürte Rentenproblem morgen noch viel größer sein wird.
Nicht nur durch die niedrigen Renten, sondern auch durch das derzeitige Rentensystem. Es fehlt die Verzinsung der Rentenbeiträge, die an das Wirtschaftswachstum gekoppelt ist. Wir schieben damit Armut auf.
Haben Sie Lösungsvorschläge?
Betriebe, die mit wenigen Arbeitskräften hohe Umsätze und Einkommen erzielen, zahlen im Verhältnis wenig Beiträge und wenig Steuern. Dass diese einen größeren Beitrag leisten, ist seit Jahren ein Thema.
Was wäre von politischer Seite zu tun?
Es braucht das Prinzip, dass alle zum Gemeinwohl beitragen wollen, sollen und müssen. Es braucht wahrscheinlich mehr Europa. Es ist meiner Meinung nach ein großes Dilemma, dass man in Krisenzeiten Europa mehr ablehnt, obwohl man genau da mehr Europa bräuchte. Ich sehe das auch in Bezug auf Südtirol. Gerade wir Südtiroler müssten auf mehr Europa setzen. Die Lösung von immer wieder offenen Problemen kann für Südtirol nur in einem starken Europa liegen. Freistaatdiskussionen nutzen da gar nichts.
Ist da der autonomiepolitische Weg auch eine Sackgasse in dieser Logik?
Der autonomiepolitische Weg ist keine Abgrenzung. Mehr Selbstständigkeit entsteht durch mehr Verknüpfungen zu den umgebenden Regionen. Das ist für uns sprachlich wichtig, gibt uns aber auch Chancen als sprachliches, kulturelles und wirtschaftliches Bindeglied.
Die Autonomie müsste aber Möglichkeiten für Zusatzkollektivverträge bieten.
Die gibt es schon. Wir leben aber in einem sehr zentralistischen Staat. Italien ist bei Reformen immer auf halbem Weg stecken geblieben. Aber auch die Linke, auch die Gewerkschaften favorisieren einen Zentralismus. Es gibt aber auch Unterschiede: es gibt die Diskussion um die Rolle von stärkeren gesamtstaatlichen oder dezentralen Kollektivverträgen. Mehr Autonomie zu diesem Thema könnte Südtirol auch vertragen.
Gibt es diese Sozialpartnerschaft, diesen Sozialtisch, von dem oft die Rede ist, wirklich?
Man trifft sich. Sozialpartnerschaft heißt eigentlich, dass man keine Maßnahmen oder Gesetze im wirtschaftlichen oder im sozialen Bereich macht, ohne zumindest miteinander geredet zu haben.
Wer ist da dabei?
Die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und die politischen Vertreter.
Wann ist aus der Sozialpartnerschaft etwas Konkretes herausgekommen?
In letzter Zeit hat sich der Dialog verbessert. In Südtirol ist allerdings viel „blabla“ um die Sozialpartnerschaft. Es wird zwar „angehört“, aber dann trotzdem so entschieden, wie man gewollt hat. Jetzt merkt man aber, dass Diskussionsbedarf da ist.
Welche Rahmenbedingungen sind ihrer Meinung nach die Voraussetzung, im Vinschgau Arbeitsplätze zu schaffen?
Man muss schauen, was im Vinschgau an Infrastruktur möglich ist. Es muss nicht unbedingt eine Super-Straße da sein, weil man übers Internet überallhin kommt. Eine gute Internetverbindung erachte ich als wesentlich. Wichtig ist, dass das Krankenhaus erhalten bleibt und mit Kompetenzzentren ausgebaut wird. Dann kommen kompetente Leute her. Auch in der Privatwirtschaft braucht es interessante Betriebe, die eine Ausbildung gewährleisten. Es braucht einen gesunden Ausgleich zwischen manuellen und geistigen Fertigkeiten, also Bildung und und Ausbildung. Die Menschen müssen im Vinschgau bleiben können. Auch braucht es mehr Offenheit.
Was meinen Sie mit Offenheit?
Die Grenzen am Reschen, am Brenner, auch in Taufers sollen immer mehr verschwinden. Dann haben wir einen größeren Radius in der Arbeitswelt. Das kann man nur mit der Stärkung Europas erreichen. Weniger Nationalstaat. Es hat keinen Sinn, bei uns einen kleinen Nationalstaat aufbauen zu wollen. Die AgreAlp, die Europaregion Tirol usw. müssen gestärkt werden.
Ein neues Landesparlament wird am Sonntag gewählt. Ihr Zuruf an die Politik?
Als Gewerkschafter fordere ich eine Politik für die Arbeitnehmerseite. Ich habe den Eindruck, dass man sich in Wahlzeiten auf die Arbeitnehmer besinnt, weil jeder einzelne eine Stimme hat. Es braucht eine starke politische Arbeitnehmervertretung, die sozialdemokratische, christlich-soziale Politik macht und für soziale Gerechtigkeit sorgt. Es braucht es ein starkes Gegengewicht zum Bäuerlichen und Wirtschaftlichen, zum Konservativen und zum Liberalen. Es ist ein Bewusstsein für eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen. Ich befürchte in meinen Träumen, dass man früher oder später mit dem chinesischen Modell daherkommen wird: ein gewisses, beschränktes Maß an Freiheit, wirtschaftlich flott, aber alles unter Kontrolle. Man muss Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit stärken. Das muss man zusammenbringen.
Interview: Erwin Bernhart