„Wissen Sie“, sagt sie, „i fühl mi suscht gonz gsund, tratzn tian miar lei die Augen.“ Die Augen, die bereiten Valeria Visintainer Sorgen. Mit dem Sehen hapert’s seit geraumer Zeit, lesen, sagt sie, das kann sie schon lange nicht mehr und beim Schreiben komme sie gar in alle Richtungen. Und doch: Valeria Visintainer versprüht Lebensfreude, verbreitet Lebensmut. „Wissen Sie, i hons fein do“, sagt sie und deutet aufs Bürgerheim. Nur manchmal fehlen ihr der Garten und die Möbel, die sie hatte, bevor sie hierher ins Bürgerheim zog. Gleich ums Eck ist ein kleiner Balkon. Und wenn die Sonne scheint, sitzt sie fast jeden Tag dort, auf einem Stuhl, den sie von Zuhause mitgenommen hat. Ein zweiter Stuhl bietet jenen Menschen Platz, die Valeria Visintainer besuchen und denen sie – und das macht sie gerne – von ihrem Leben erzählt. Und wenn man mehr als ein ganzes Jahrhundert erlebt hat, dann gibt es zweifelsohne einiges zu erzählen.
Geboren wurde Valeria Visintainer am 13. November 1910 in Trient, genauer in Cles am Deutschnonsberg. Als die Familie Visintainer nach Göflan zog, war Valeria zehn Jahre alt und kannte kein einziges Wort in Deutsch. Der Vater, der fand erst beim Toni, später beim Karl Tinzl in der Kanzlei Arbeit, hat für den Rechtsanwalt viele Texte ins Italienische übersetzt und umgekehrt aus dem Italienischen ins Deutsche. Wia hoasch du? habe ein Mädchen in Göflan sie gefragt, als sie ganz frisch dort wohnte. „Niente capire“, habe sie ihr geantwortet. „Du, de hot an gspassigen Nomen, de hoasst niente capire,“ habe das Mädchen dann einer Dritten erzählt. Erst viel, viel später, als sie schon erwachsen war, habe ihr jemand diese Anekdote erzählt.
Valeria ging gerne zur Schule. „I hon gweint, wenn die Lehrerin mi nimmer unterrichtet hot.“ Valeria war damals 14 Jahre alt, mit diesem Alter schulte man aus. Gebittet hätte sie die Lehrerin, dass sie ihr noch ein Jahr lang Deutschunterricht gebe, gebettelt und angefleht. Doch nichts war zu machen, Valeria kam ins Vögeleheim zum Flicken, Einsticken, Socken stopfen. Später half sie dann manchmal in einer Kanzlei aus, war Dolmetscherin bei den Finanzern in Prad. Vor allem aber führte sie den Haushalt Zuhause, erst für die Eltern, später für ihre Schwester Lina, mit der sie bis ins hohe Alter lebte. Wenn sie auch nicht wie der Bruder studieren durfte, so sei sie doch glücklich gewesen, sagt sie. Der Vater hätte ihr später einmal gestanden: Er hätte sie gerne studieren lassen, wie den Bruder, wenn es auch ein finanzielles Opfer bedeutet hätte, aber die Angst um ihre Gesundheit war größer.
Valeria erkrankte in ihren Jugendjahren an Tuberkulose. „I bin sellm ollm af Hosl aui und hon in Wold tief eingeatmet“, lacht sie und streckt die Hände dem Himmel entgegen, genauso wie sie es damals tat. Aus voller Kehle habe sie dann gesungen. Der Gesang, der war ihr Lebenselixier und machte sie gesund. Denn wenig später bestätigten gleich zwei Ärzte, dass sie völlig gesundet sei. Nur einer blieb trotz der erfreulichen Diagnose skeptisch: Ihr damaliger Verlobter, der aus Padua stammende „capo stazione“ von Schlanders. Er wollte von einer Heirat plötzlich nichts mehr wissen. Sie selbst, sagt sie, hätte ihn nicht ungern geheiratet. Aber heute verstehe sie, dass eine Hochzeit nichts Gescheites gewesen wäre. Sie hätte keinen guten Mann gehabt, keinen mit „Courage“. Der „capo stazione“ und Valeria Visintainer heirateten nicht und heirateten auch später nicht mehr. Beide blieben allein. Deswegen sei sie aber nicht unglücklicher gewesen. Und allein, das war sie sowieso nicht. Sie hatte viele Freunde und viele Bekannte.
„Gesang verschönt das Leben, Gesang erfreut das Herz, ihn hat uns Gott gegeben, zu lindern unseren Schmerz“, sprudelt es plötzlich aus ihr heraus. Gedichte kennt Valeria Visintainer mindestens ein Dutzend und alle auswendig. Nur die schönsten Gedichte habe sie sich gemerkt, die seien ihr im Kopf und im Herzen geblieben und hätten ihr in manchen Lebenssituationen geholfen. Auch als die Letzte aus ihrer Familie, ihre Schwester Lina an Nierentumor verstarb und sie Valeria ins Bürgerheim übersiedelte. Dort wird beim Geburtstag immer eine kleine Feier organisiert. „Ban 100er, sem hobm sie mi schian gfeiert“, schwärmt Valeria, auch knapp drei Jahre später noch. Einen großen Strauß Blumen habe sie vom Bürgermeister empfangen und einen Kuchen bekommen. „Iatz wear i nor in November 103 Jahre olt“, sagt sie und wundert sich ein bisschen selbst.