Buchbesprechung - Ein Liedermacher, wie es der gebürtige Stilfser Frederick Helmut Pinggera ist, komponiert Texte und Melodien. Nun hat er zu einem mächtigen Lied ausgeholt und als Autor die Geschichte seiner Großmutter Maria, genannt Marsala, zu Papier gebracht. „Alles, was du dir vorstellen kannst, mein Bub, ist wahr.“, spricht das Mischwesen aus Erinnerung und Vorstellungskraft zum Ich-Erzähler. Pinggera bedient sich einiger Kunstgriffe, um die Großmutterfigur zu literarisieren. So erscheint sie in der Gegenwart auf Sizilien und beauftragt den Erzähler mit dem Schreiben. Wohlfühlen wird man sich in Band 1 erst, wenn sich Pinggera in die Kindheit, ins „Dorf am Hang“ und den vertrauten Singsang zurückerzählt hat. Das dauert ein bisschen, doch dann, auf der Gasse liegend, wird die tiefe Verbindung zwischen Kind und Nandl fühlbar. Gelegentlich bricht der Junge aus, etwa wenn er wie ein Stilzer Ikarus mit Mutter Mine ein Flügelpaar baut und abhebt. So verfährt auch Pinggera. Einerseits bleibt er nah am Bergdorf im engen Kreis von wenigen Menschen und Tieren. Andererseits holt er zu Welten aus, in denen Marsala als Teil einer eigentümlichen Mythologie auftritt. Glücklicherweise erkennt der Autor meist, wann es zu verworren wird. Bevor die Ikarusflügel in der Poesiewelt und durch Kunstsprache zu schmelzen beginnen, stellt er die Beine der Leser:innen erneut auf den Boden. Wer noch ein bisschen torkelt, kann sich an Dialogen festhalten und wird sich in Flurnamen (das ist Musik!), bekannten Ritualen und dem Stilfser Dialekt mit der e- Endung einfinden. Ab dem gemeinsamen Ausflug in die Prader Sand kündigt sich schon an, wie es der Marsala und dem Enkel ergehen wird: „ootschappiert“ wie Treibholz. Ein Buch für alle, die etwas Geduld mitbringen, langsam in die oft lyrische, verspielte Prosa einzusickern. Irgendwann verschwindet man in den Spiralen der rhätischen Sonnen von Marsalas Glockenrock und möchte wissen, wie sich die Familiensaga fortsetzt.
Maria Raffeiner