„Als Einzelkind ist man aber oft einsam“, bemerkt er. „Ich hätte lieber ein Dutzend Geschwister gehabt, als alleine zu sein.“ Kaufmännische Kenntnisse eignete er sich in einer „Sekretärschule“ in Bad Radaz an. „Es war eine Schnellbleiche für Eilige“, meint er. Eilig hatte er es, denn er wurde daheim gebraucht, weil in der Nachkriegszeit die Geschäfte zu blühen begannen. Das umfangreiche Warenangebot und auch die gute Schweizer Schokolade lockten viele Vinschgerinnen und Vinschger zum „Conrad“. Tabakwaren, Saccharin und Kaffee waren um vieles günstiger als in Italien. Sebastian konnte laufend mit Großkäufern aus dem Mailänder Raum lukrative Geschäfte abschließen. Und er nannte ihnen die Namen von Trägern aus dem Vinschgau. Regelmäßig packte er die begehrten Waren in Jutesäcke und übergab sie den Trägern. Eines stellt Sebastian klar: „Aus Schweizer Sicht war alles ganz legal. Wir haben regulär verkauft und die Waren im Zollamt in Sta. Maria deklariert.“ Nachdem die Route ins Feltlin zu stark kontrolliert wurde, gingen die Schleichwege über die grüne Grenze bei Taufers, oder über den Chavalatsch und das Jöchl. Sebastian war jedes Mal froh, wenn er erfuhr, dass die Träger den vereinbarten Treffpunkt jenseits der Grenze erreicht und die Säcke übergeben hatten. „Die Träger erhielten gemessen an den Löhnen der damaligen Zeit oft mehr als einen Monatslohn für einen Botengang“, weiß er. Geschäftlich lief es auch für ihn bestens. Privat fand er das Glück mit Barbara Ruinatscha, die er 1954 heiratete. Ein Kind nach dem anderen brachte Leben ins Haus und die Einsamkeit, die Sebastian in Kindertage gefühlt hatte, war überwunden. Es herrschte Aufbruchstimmung. Er eröffnete 1957 den Kiosk mit Tankstelle nahe der Grenze. Kurz darauf wurde das Familienglück getrübt. Die kleine Marie Bernadette starb im Alter von zweieinhalb Jahren an Diphterie. Dieser Verlust schmerzt Sebastian bis heute. „Das hat mir im Leben am meisten weh getan“, bekennt er. Mit Arbeit lenkten er und seine Frau sich ab. Dankbar waren sie, dass die übrigen fünf Töchter und der Sohn gesund aufwuchsen. In den 70er Jahren endeten die goldenen Zeiten. Währungsbedingt war das Einkaufen in der Schweiz weniger lukrativ geworden. „Bei Grenzgeschäften muss man immer auf Schwankungen vorbereitet sein, und sich anpassen“, erklärt er. Mit der Eröffnung der Drogerie 1975 versuchte er Einbusen auszugleichen. Und es gelang ihm, eine Marktlücke zu besetzen. Er eröffnete auch ein Lebensmittelgeschäft in Müstair und aus dem alten Geschäftshaus wurde ein Gasthof. Seit jeher beschäftigte er viele Mitarbeiter aus dem Vinschgau. „Mit denen sind wir sehr zufrieden, denn wir sind ja derselbe Menschschlag wie die Tiroler“, bemerkt er. Stolz ist er darauf, dass vier seiner Kinder in seine Fußstapfen getreten sind. Die Geschäfte werden in seinem Sinne weitergeführt. Sorge bereitet ihm derzeit der starke Schweizer Franken und er weiß, dass neue Herausforderungen zu meistert sind. Doch er ist zuversichtlich, dass seine Nachkommen es schaffen.
Mittlerweile ist Sebastian etwas kürzer getreten. Heuer will er sich mit seiner Frau eine Reise nach Fatima gönnen. „Wir sind Verehrer der Gottesmutter“, sagt er und fügt scherzend hinzu: „Je größer der Sünder, desto mehr Heilige braucht er.“ Die Geschäftsabläufe behält er nach wie vor genau im Auge. „Die Regel ist: morgens früh und abends spät“, unterstreicht er. Und er lässt es sich nicht nehmen, abends im Kiosk an der Grenze die Abrechnungen zu machen, trotz seines hohen Alters - wie eh und je - Tag für Tag.
Magdalena Dietl Sapelza
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau