Müstair/Minschuns - Das Thema „Abwanderung aus den Talschaften“ bewegt nicht nur das Val Müstair, sondern ist eine Problematik, mit der sich alle Bergtäler im Kanton Graubünden und auch das Südtirol befassen müssen - der Regierungspräsidenten des Kantons Graubünden, Marcus Caduff, hielt dazu ein Referat im Skigebiet Minschuns
von Annelise Albertin
Am Sonntag, 20. März, lud die Uniun da Mansteranza e Gastro Val Müstair UMG (Gewerbe- und Gastroverband Val Müstair) die Bevölkerung zu einem öffentlichen Referat des Regierungspräsidenten des Kantons Graubünden, Marcus Caduff, ins Skigebiet Minschuns ein. Das Thema „Abwanderung aus den Talschaften“ bewegt nicht nur das Val Müstair, sondern ist eine Problematik, mit der sich alle Bergtäler im Kanton Graubünden und auch das Südtirol befassen müssen.
Eine stattliche Anzahl Einheimischer und auch Gäste aus anderen Gemeinden des Kantons und der Schweiz sind der Einladung gefolgt, um die Ausführungen des Regierungspräsidenten zu verfolgen. Ein strahlend blauer Himmel und das einmalige Panorama waren die Mühe wert, den rund dreissigminütigen Aufstieg zum Bergrestaurant auf der Alp da Munt zu Fuss auf sich zu nehmen. Der Ort war gut gewählt, ist doch das Skigebiet Minschuns für den Wintertourismus im Val Müstair von grösster Bedeutung und zudem zusammen mit der Skischule und dem Sportbus ein wertvoller Arbeitgeber für rund 45 Mitarbeiter.
In ihrer Einleitungsrede betonte die Gemeindepräsidentin, Gabriella Binkert Becchetti, wie wichtig die Realisierung des von der Talbevölkerung bereits gutgeheissenen Projekts „La Sassa – Minschuns“ ist. Das 4-Sterne Resort mit Zubringerbahn ins Skigebiet bringt neue Gäste ins Tal und die Zubringerbahn ist eine wesentliche Aufwertung des Skigebietes, indem auch die Talabfahrt als Erweiterung des Pistenangebots besser genutzt werden kann. Für die Bahn ist zudem ein Ganzjahresbetrieb geplant, was das Angebot für Wanderer und Biker umso attraktiver macht. „Wir alle sind überzeugt, dass ein Ganzjahres-Tourismus dank einer neuen, ökologisch sinnvollen Berganbindung die dringend nötige touristische Weiterentwicklung bringen kann“, bekräftigte die Gemeindepräsidentin ihre Einleitungsworte. Projekte wie „La Sassa – Minschuns“ schaffen zudem Arbeitsplätze und wirken so der Abwanderung entgegen. „Projekte dieser Grössenordnung benötigen jedoch Ausdauer, Mut, Zuversicht und eine gehörige Portion Vertrauen seitens der Bevölkerung“, betonte Gabriella Binkert Becchetti. Die Gemeinde strebt nun eine für alle Parteien einvernehmliche Lösung mit den kritischen Umweltverbänden an und es wird auch hier ein Geben, Nehmen und Aufeinanderzugehen sein. In Sachen Naturschutz wurde im Val Müstair in den letzten Jahrzehnten sehr viel unternommen.
Die Errichtung das Naturparks Biosfera Val Müstair aber auch die Anstrengungen der Landwirtschaft und des Forstwesens in der nachhaltigen Bewirtschaftung von Wald und Wiesen zeigen auf, wie hoch die Erhaltung der intakten Natur eingestuft wird. Daneben muss aber auch an die zukünftigen Generationen gedacht und interessante Arbeitsplätze und Perspektiven geschaffen werden.
Diesen gewichtigen Einleitungsworten konnte der Regierungspräsident Marcus Caduff in seinem Referat nur zustimmen. Er erläuterte anhand mehrerer Statistiken den Wirtschaftsstandort Val Müstair und zeigte Entwicklungen und Perspektiven auf. Der Bevölkerungsrückgang im Val Müstair betrug in den letzten 10 Jahren minus 10,6 %. Mehr Todesfälle als Geburten und Abwanderung sind die Ursachen dieses drastischen Rückgangs. Junge Einheimische und Familien verlegen ihren Wohnsitz an Orte mit attraktiveren Arbeitsplätzen. Die Folge ist eine Überalterung der Gesellschaft, was die eindrückliche Grafik mit den gegensätzlichen Tendenzen deutlich macht. Lag der Jugendquotient im Kreis Unterengadin/Val Müstair* 1980 noch bei 56 % gegenüber einem Altersquotient von 31 %, betrug der Jugendanteil 2020 nur noch 30 % gegenüber einem Altersanteil von 44 %. Dieses Ungleichverhältnis ist erschreckend und alarmierend.
Beschäftigungswachstum trotz Einwohnerrückgang: Grenzgänger springen in die Bresche
Marcus Caduff betonte aber auch, dass das Val Müstair in den letzten zehn Jahren einen gesunden Industrie- und Gewerbesektor aufbauen konnte. Durch die Ansiedlung von grösseren Industriefirmen im Tal konnten Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Val Müstair liegt bei den Arbeitsstellen rund 2 % über dem Schnitt im Kanton Graubünden.
Aufgrund der Abwanderung stehen nicht genügend einheimische Arbeitskräfte zur Verfügung, was durch die Grenzgänger aufgefangen wird. Waren 2003 im Kreis Unterengadin/Val Müstair* rund 700 Grenzgänger beschäftigt, so stieg die Zahl bis heute auf 1500 an. Im Val Müstair kommen laut Marcus Caduff täglich rund 500 Personen über die Grenze zur Arbeit.
Das Val Müstair hat ein hohes Entwicklungspotenzial
Der Tourismus hat im ganzen Kanton Graubünden eine überragende Bedeutung. Ist die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft gleichbleibend, steigt sie im touristischen Bereich stetig an. Der Lockdown im März 2020 und Winter 2020/2021 hat dem Kanton und der ganzen Schweiz einen Einbruch bei den Logiernächten beschert. Geschlossene Betriebe und das Wegbleiben der ausländischen Gäste zeigten negative Folgen. Die grossen mondänen Orte mit vielen ausländischen Touristen und die Städte haben sehr darunter gelitten. Demgegenüber hat das Val Müstair ein Plus an Logiernächten ausweisen können. Die Schweizer verbrachten ihre Ferien in der Schweiz, vorzugsweise an Orten mit naturnahem und sanftem Tourismus. Hier konnte das Val Müstair trumpfen. Die Hotels brachten ihre Infrastruktur auf einen coronakonformen Standard und konnten so Gäste beherbergen, aber auch die Ferienwohnungen waren lange Zeit ausgebucht. Die Gäste freuten sich über Ferien ohne Massentourismus. Dank des Einsatzes der Regierung des Kantons Graubünden waren auch die Skigebiete im Winter 2020/2021 in Betrieb. Aufgrund der geschlossenen Skigebiete musste auch unser Nachbar, das Südtirol, grosse Einbussen im Tourismus hinnehmen.
Chancen wahrnehmen
Wie kann das Val Müstair seine Chance wahrnehmen? Marcus Caduff zeigt Lösungsansätze auf, die mit denjenigen der Gemeindepräsidentin in ihrer Einleitung identisch sind. Der eingeschlagene Weg im naturnahen Tourismus soll weiterverfolgt werden, trotzdem muss eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung stattfinden können. Die touristischen Zielgruppen müssen klar definiert sein, hier hat der Wander- und Biketourismus grosses Potential. Das Val Müstair muss in seine Stärken investieren. Der Gast von heute ist umweltbewusst, legt Wert auf regionale Produkte. Indem Landwirtschaft und Tourismus am gleichen Strick ziehen, so Marcus Caduff, kann eine Region wie das Val Müstair mit seinen starken Konkurrenten im Tourismussektor mithalten.
Um der Abwanderung entgegenzuwirken oder Familien und jungen Leuten die Rückkehr zu ermöglichen, ist es notwendig, ein familienfreundliches Umfeld zu schaffen. Die Wohnattraktivität für Familien muss gesteigert werden. Hierzu braucht es nebst interessanten Arbeitsstellen für Einheimische bezahlbaren Wohnraum, ein familientaugliches Kinderbetreuungsangebot und kinderfreundliche Infrastrukturen.
Das Val Müstair ist bereit, diese Herausforderungen anzunehmen.
*die Zahlen wurden pro Kreis erhoben