Vinschgerwind – Interview
Verena Massl aus Vetzan, geboren 1989, Sozialpädagogin & Jugendcoach, Bachelorstudium Psychologie und Sozialpädagogik, Masterstudium „IRIS – Innovation in Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit“, arbeitet derzeit bei „netz – Offene Jugendarbeit“, dem Dachverband für die Offene Jugendarbeit in Bozen. Sie hat ihre Masterarbeit über die Erfahrungen in einem Dorf in Israel geschrieben, in welchem jüdische und palästinensische Familien miteinander leben und sich für Frieden im Land sowie zwischen den Religionen einsetzen. 2020 erhielt Verena Massl für ihre Masterarbeit den „Bischof-Karl-Golser-Preis“. Am 6. März wollte sie über ihre Erfahrungen in Israel in der Bibliothek Schlandersburg berichten. Die Veranstaltung wurde wegen dem Coronavirus abgesagt. Wir haben mit Verena Massl gesprochen.
Vinschgerwind: Sie haben im Jahre 2016 ein Praktikum in einem Dorf in Israel gemacht und darüber ihre Masterarbeit geschrieben. Wie ist es dazu gekommen?
Verena Massl: In den Jahren 2014 und 2015 war ich bereits zwei Mal über die Freie Universität Bozen dort und habe gemerkt, dass mich das Land sehr fasziniert. Im Oktober 2015 bin ich zufällig über eine Ausschreibung der italienischen Partnerorganisation des Dorfes gestoßen, welche ein Stipendium für ein Praktikum in Neve Shalom – Wahat al-Salam ausgeschrieben hatte. Ich habe mich dann sprichwörtlich in letzter Sekunde beworben, denn die Frist war genau an dem Tag, als ich auf die Ausschreibung gestoßen bin. Zwei Monate nach dem ersten Auswahlgespräch in Mailand habe ich erfahren, dass ich unter die letzten drei Kandidaten gekommen bin und schlussendlich von der Kommission im Dorf für das Praktikum ausgesucht wurde. Innerhalb von zwei Wochen musste ich entscheiden, ob ich das Stipendium annehme und im Februar für ein halbes Jahr nach Israel ziehe. Ich habe aber nicht lange überlegen müssen und gleich zugesagt.
Vinschgerwind: Das Dorf Neve Shalom, auch Wahat al-Salam genannt, was so viel wie „Oase des Friedens“ bedeutet, ist ein besonderes Dorf mit einer besonderen Einrichtung.
Verena Massl: Das Besondere ist, dass es die erste und bisher einzige bewusst gemeinsam aufgebaute Gemeinschaft in Israel ist, in welcher jüdische Israelis mit Palästinensern, also Muslime und Christen, friedlich miteinander leben. In diesem Dorf wurde auch die erste zweisprachige und interreligiöse Schule Israels gegründet. Heute besuchen diese Grundschule mehr als 300 Kinder. Außerdem gibt es im Dorf noch eine Schule des Friedens für Erwachsene, in welcher Begegnungen zwischen Juden und Palästinensern stattfinden. Die Teilnehmer sollen ein größeres Bewusstsein für den Konflikt und ihre eigene Rolle darin entwickeln. Seit ihrer Gründung haben mehr als 25.000 Menschen an diesen Begegnungen teilgenommen.
Vinschgerwind: Wie kam es zu dieser Einrichtung?
Verena Massl: Gegründet wurde das Dorf 1972 vom Dominikanerpriester Bruno Hussar. Er hat die Erlaubnis vom nahegelegenen Kloster Latroun erhalten, auf ihrem Grundstück ein Dorf aufzubauen, in welchem jüdische und palästinensische Familien in Frieden miteinander leben würden. Es war nicht einfach, Menschen für dieses Vorhaben zu gewinnen, denn der Konflikt hat einen tiefen Graben zwischen Juden und Palästinenser im Land geschaffen. Nach 3-4 Jahren kamen die ersten Familien, welche von dieser Idee überzeugt waren und schlossen sich Bruno Hussar an.
Vinschgerwind: Was waren Ihre Aufgaben und Ihre Erfahrungen?
Verena Massl: Ich war im Kommunikationsbüro als Praktikantin zuständig für die Berichterstattung im Dorf und für die Kommunikation nach außen d.h. ich habe den internationalen Partnerorganisationen über die vielfältigen Aktivitäten im Dorf berichtet, Fundraising-Kampagnen konzipiert, sowie internationale Besuchergruppen empfangen und ihnen die Institutionen des Dorfes gezeigt. Außerdem war ich bei Begegnungen von Jugendlichen aus verschiedenen Oberschulen dabei, sowie in die Aktivitäten der Grundschule im Dorf involviert. Meine Erfahrung über das Leben im Dorf war eine sehr positive. Wir Praktikanten wurden sehr gut aufgenommen und ich war häufig zu Gast bei Familien an verschiedenen Feiertagen oder anderen Anlässen. Wenn man bedenkt, dass ich dort jüdische, christliche und muslimische Feiertage mitbekommen habe, war eigentlich immer etwas los. Ich war bisher in meinem Leben auf 6 Hochzeiten eingeladen, 3 davon fanden in meiner Zeit in Israel statt. Teilweise kannte ich die Brautleute nur flüchtig oder gar nicht und war über Bekannte vom Dorf mit eingeladen. Die Gastfreundschaft ist dort der höchste Wert und es kann sehr schnell als Beleidigung gelten, wenn man eine Einladung ablehnt.
Vinschgerwind: Warum ist es so schwierig im Nahen Osten Frieden zu schaffen, welche Rolle spielt die Religion und der Nationalismus?
Verena Massl: In diesem Konflikt geht es neben Religion und Nationalismus, welche sicherlich einen starken Einfluss haben, auch um einen materiellen Konflikt. Die Ressourcen in Israel und Palästina sind sehr ungleich verteilt. Obwohl die Palästinenser allein innerhalb des Staates Israel rund 20% der Bevölkerung ausmachen, sind sie kaum in wichtigen Ämtern vertreten und erleben erschwerten Zugang zu Bildung und ökonomischen Ressourcen. Warum es schwierig ist Frieden zu schaffen, merkt man, wenn man mit den Menschen spricht. Viele geben dabei dem Anderen die Schuld und meinen, dass es die Anderen sind, die keinen Frieden wollten.
Vinschgerwind: Haben Sie noch Kontakte mit den Menschen in Israel?
Verena Massl: Ja, Kontakt halte ich hauptsächlich über Facebook und Instagram. Seit dem Ausbruch der Corona-Krise haben sich auch einige von ihnen gemeldet, um zu fragen wie es uns hier geht. 2018 war ich wieder zu Besuch und habe mich schnell wieder in die Gemeinschaft aufgenommen gefühlt. Seit drei Jahren bin ich auch im Vorstand der italienischen Partnerorganisation von Neve Shalom – Wahat al-Salam in Mailand. So bekomme ich auch regelmäßig Einblicke in die Projekte und habe die Möglichkeit, mich auch weiterhin für das Dorfes einzusetzen.
Vinschgerwind: Sie sind auch Mitglied beim Club Alpbach, dem Europäischen Forum Alpbach. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht, welche Persönlichkeiten kennen gelernt?
Verena Massl: Die zwei Wochen beim Europäischen Forum Alpbach im Jahr 2017 waren sehr intensiv und abwechslungsreich. Das Thema war „Konflikt und Kooperation“. Es waren wichtige Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft vor Ort, wobei ich mich hauptsächlich an eine bewegende Ansprache von Jeffrey Sachs, dem Ökonomen und UN-Sonderberater erinnern kann. Die Tiroltage waren aufgrund ihrer besonderen Atmosphäre eines der Highlights beim EFA 2017. Besonders in Erinnerung bleiben wird mir der Vortrag des im Jahr 2019 verunglückten Sportkletterers und Alpinisten David Lama, welcher auf der „Alpbacher Denkerwiese“ von seiner Motivation, vom Unterschied zwischen Erfolg und bedingungsloser Hingabe und dem Umgang mit Scheitern und dem Risiko erzählte. Dabei hat er auch darüber gesprochen, wie er und seine Familie mit dem Risiko umgehen, welchen er auf seinen Expeditionen ausgesetzt ist. Sein natürlicher Umgang mit diesem Thema hat mich sehr beeindruckt, aber auch stark beschäftigt, als die Nachricht vom Tod der drei Bergsteiger bei einer Expedition in Kanada bekannt wurde.
Vinschgerwind: Für die Abschlussarbeit über die „Oase des Friedens“ in Israel haben Sie im Jänner 2020 den „Karl-Golser-Preis“ erhalten. Was bedeutet für Sie diese Auszeichnung und was haben Sie durch die Erfahrung in Israel persönlich und für die Arbeit als Jugencoach gelernt bzw. profitiert?
Verena Massl: Ich bin sehr dankbar über die Möglichkeiten, die sich durch meine Zeit in Israel und Palästina eröffnet haben. Bei allen Entscheidungen bin ich meinem Bauchgefühl gefolgt und habe mich dabei nicht von Ängsten und Zweifeln von außen beunruhigen lassen. Was meine Ideen anbelangt, bin ich ziemlich stur und wenn ich von etwas überzeugt bin, dann mache ich das mit sehr viel Hingabe. Umso mehr habe ich mich über die Anerkennung durch den „Bischof-Karl-Golser-Preis“ gefreut. Diese Anerkennung möchte ich jedoch gerne auch weitergeben, an die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Dorf, welche an meiner Abschlussarbeit beteiligt waren und ohne deren Unterstützung meine Forschung in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Aus diesem Grund habe ich auch die Hälfte des Preisgeldes für die Erneuerung des Spielplatzes der Grundschule von Neve Shalom – Wahat al-Salam gespendet. Persönlich habe ich das Gefühl, durch diese Erfahrung flexibler und offener geworden zu sein, sowie mehr Verständnis für das Zusammenleben verschiedener Gemeinschaften entwickelt zu haben. Bei meiner konkreten Arbeit als Jugendcoach hilft mir diese Erfahrung insofern, als dass auch dort viel Flexibilität und Offenheit gefragt ist. Als Jugendcoaches begleiten wir Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren in ganz Südtirol dabei, eine Arbeit, eine Lehrstelle, ein Praktikum oder einen für sie geeigneten Bildungsweg zu finden. Da ist es wichtig, dass man selbst auch auf vielfältige Erfahrungen zurückgreifen kann und sich mit der eigenen Bildungsbiografie auseinandergesetzt hat.
Interview: Heinrich Zoderer