Die Rotwildentnahme musste gestoppt werden. Die Population des Rotwildes wuchs in der Folge immer stärker an und die hohen Dichten führten zu drückenden Schäden an den landwirtschaftlichen Kulturflächen und zu starken Verbiss-Schäden am Wald. Die Waldverjüngung litt und die verschiedenen Funktionen des Waldes waren mittelfristig gefährdet.
Die Erhebung des Gesundheitszustandes
In den Jahren 1997-99 wurden unter der Führung des Nationalparks als neu eingerichtetes Konsortium am mittelvinsch- gauer Anteil des Parks im Herbst jeweils 120 -150 Stück Rotwild als Stichprobenbreite durch Abschuss entnommen, um Daten über dessen körperliche Konstitution und Gesundheitszustand zu gewinnen. Die biometrischen Messungen bestätigten den Stresszustand durch zu hohe Wilddichten und die Verknappung des Äsungs-angebotes. Die Wildverbiss-Studie am Wald von 1998 ergab hohe Prozentsätze von verbissenen Bäumen in den 550 Probeflächen am Nörderberg und im Martelltal. Die Laboranalysen auf Bakteriosen und Virosen bestätigten die Beobachtungen im Feld von abgemagerten und schwächelnden Tieren: Bis zu ein Drittel der Hirschkälber war damals Träger der Paratuberkulose oder an der Paratuberkulose erkrankt.
Wiederbeginnendes Rotwildmanagement
Die Erkenntnisse aus den Entnahmen von Rotwild in den Jahren 1997-99 und die Untersuchung im Labor und die Felderhebungen in der Land- und Forstwirtschaft führten zur Ausarbeitung des 1. Managementplanes zur Regulierung des Rotwildes im Nationalpark Stilfserjoch für die geographische Untereinheit Mittelvinschgau einschließlich des Martelltales: Der Dreijahresplan 2000-2002 enthielt mehrere Elemente, so etwa die jährliche Wiederholung der Zählung und Erfassung des Bestandes, die veterinärmedizinische Untersuchung der Tottierfunde, die Erfassung der saisonalen Wanderungen von den Sommer- in die Wintereinstände durch Markierung und Besenderung von Tieren, die Erhebung und Abgeltung der Schäden an landwirtschaftlichen Kulturflächen, die Erfassung der Verbiss- und Fege-Schäden im Wald, die Beobachtung der Konkurrenzsituation Reh – Rotwild, die Verbesserung der Lebensraumsituation und eben herbstliche Entnahmen durch selektive Abschüsse vor allem in der weiblichen Population zur Reduzierung der hohen Dichten.
Ausgangssituation und Ziel
Die Fortsetzung der historischen Zählreihe von Daten hatte für das Rotwild im mittelvinschgauer Anteil des Nationalparks für das Jahr 1999 eine Dichte von 9,7 Stück je 1 km² ergeben. In der Fachwelt gilt eine Rotwilddichte von 4 St./km² als obere Grenze dafür, dass der Wald sich verjüngen kann. Größere Dichten führen zu starken Verbiss-Schäden und gefährden mittelfristig die Schutz- und Nutzfunktion des Waldes.
Der Nationalparkrat hat in der Folge den zunächst auf die drei Jahre 2000-2002 zeitlich beschränkten Managementplan zur Rotwildkontrolle genehmigt. Der Plan, ausgearbeitet von Wildbiologen als Rotwildexperten, wurde in der Folge vom nationalen wildbiologischen Institut in Bologna positiv begutachtet und dessen Umsetzung vom Umweltministerium ermächtigt. Ein Ziel des Planes bestand darin, den Rotwildbestand im mittelvinschgauer Parkanteil von ca. 1.400 Stück auf ca. 700 Stück zu halbieren. Diese Reduzierung würde der oben erwähnten Dichte von 4 St. /km² entsprechen.
Ab dem Jahre 2002 wurde auch für die geographische Untereinheit Trafoital bis Taufers im Obervinschgau ein solcher Managementplan ausgearbeitet, genehmigt und umgesetzt. Vorrangiges Ziel war in diesem geographischen Bereich der Schutz der Weißtanne (Abies alba) vor Wildverbiss: Im und um den sogenannten Brugger-Wald zwischen Glurns und Taufers stocken bestandesbildend Weißtannen, welche als trockenresistente, inneralpine Varietät eine besonders wertvolle genetische Ressource darstellen und daher geschützt und erhalten werden müssen. Das Rotwild ist ein Nahrungs-selektierer und die frischen Tannentriebe stehen bei ihm besonders hoch im Kurs. Bei den festgestellten hohen Dichten von Rotwild wurden im Brugger Wald praktisch 100% der Tannen-Keimlinge und Jungbäume verbissen mit der Folge der völlig ausbleibenden Waldverjüngung.
Die Erkenntnisse aus 12 Jahren Rotwildmanagement
Welches sind nun die wesentlichen Erkenntnisse aus den 12 Jahren Rotwildmanagement im vinschgauer Anteil des Nationalparks im Zeitraum 2000-2011 und aus der im Sommer 2012 wiederholten Erhebung der Verbiss- und Fegeschäden im Wald?
1. Erkenntnis: Die angestrebte Dichte von 4 Stück Rotwild/km² wurde mit den bisherigen Abschüssen in beiden geographischen Untereinheiten noch nicht ganz erreicht. Die Parkverwaltung will daher die Rotwildentnahmen im Vinschgau in den nächsten Jahren fortsetzen und hat dazu mit den Experten Sandro Nicoloso, Luca Pedrotti und Hanspeter Gunsch einen Fünfjahresplan 2012 – 2016 erarbeitet. Der Plan behängt derzeit beim nationalen wildbiologischen Institut zur Begutachtung und beim Umweltministerium zur Genehmigung.
Insgesamt wurden unter Beteiligung der ortsansässigen Jäger und der Habilitierten mit Zusatzausbildung im Zeitraum 2000-2011 im Mittelvinschgau 4.436 Stück Rotwild erlegt, davon 2.751 Stück gleich 62% innerhalb des Nationalparkgebietes. Der Erfüllungsgrad lag dabei innerhalb des Parks bei 84,2% mit einer durchschnittliche Entnahme von 183 Stück pro Jahr und einer Schwankungsbreite von + 53. In der Einheit Gomagoi – Taufers und in den umliegenden Jagdrevieren wurden im Zeitraum 2002-2011 5.667 Stück Rotwild erlegt, davon 601 oder 11% innerhalb der Grenzen des Nationalparks. Der Erfüllungsrad der Entnahmen innerhalb des Nationalparks lag dabei bei 65,3% gegenüber dem Plansoll. Durchschnittlich wurden innerhalb dieses Parkgebietes jährlich 54 Stück Rotwild entnommen mit Schwankungsbreiten von + 24.
Die Frühjahrdichte 2012 lag im mittelvinschgauer Parkanteil bei 5-6 St./km², im obervinschgauer Parkareal bei 6 St./km².
2. Erkenntnis: Aus der mit vergleichbarer Methodik im Sommer 2012 wiederholten Ersterhebung der Verbiss- und Fegeschäden im Wald von 1998 lässt sich generell die Aussage treffen, dass die Verbiss-Schäden nicht abgenommen, sondern eher zugenommen haben. Allerdings bedarf diese allgemeine Feststellung einer Differenzierung nach geographischen Unterzonen und nach Baumarten. Diese Differenzierung kann im Rahmen dieses Beitrages aus Platzgründen nur sehr synthetisch ausfallen. Für die einzelnen Baumarten kann im Vergleich 1998 zu 2012 gesagt werden, dass im Mittelvinschgau der Verbiss bei der Fichte von 50 auf 33% gesunken ist, bei der Lärche ist er hingegen von 34 auf 47% angestiegen, bei der Zirbe gab es eine Abnahme von 14 auf 10%, bei den Laubhölzern eine Zunahme von 2 auf 9%.
3. Erkenntnis: Die für die Abgeltung der Schäden an landwirtschaftlichen Kulturen im Zeitraum 2000-2011 aufgewendete Geldsumme betrug insgesamt € 804.614,78, wobei die gemeldeten Schäden auf insgesamt € 1.064.549,00 beziffert wurden. Der Prozentsatz der Schadensabgeltung im Vergleich zum angemeldeten Schaden lag damit über alle Kulturarten gemittelt durchschnittlich bei 75%. An den Wildschäden waren die Mähwiesen im Berggebiet mit 54,2% beteiligt. Die Schäden an den frisch angrünenden Bergwiesen nehmen in der 2. Hälfte des Auswertungszeitraumes ab: Während in der 2. Hälfte jährlich durchschnittlich € 35.000 für die Schadensabgeltung in den Wiesen aufgewendet werden mussten, war der Betrag in der 1. Hälfte des Beobachtungszeitraumes fast doppelt so hoch. Aufgeschlüsselt nach Gemeinden war der größere Teil der Schäden im Grünland in den Gemeinden Martell und Stilfs zu verzeichnen.
4. Erkenntnis: Der Wechsel von den Sommereinständen im Nationalparkgebiet in die Wintereinstände außerhalb ist in bestimmten Gebieten durch die Wildzäune unterbunden. Rotwild ist lernfähig: Es verfestigen sich Beobachtungen, dass sich Rotwild im Hintermarteller Almgebiet, so es die Winter zulassen, auch als Standwild einstellt. Dieses Gebiet war bisher als Schon- und Ruhegebiet von den herbstlichen Entnahmen ausgenommen worden.
Wo die Rotwilddichte abnimmt, erholt sich das Reh. Insofern sind die Managementpläne zur Reduzierung des Rotwildes auch ein Baustein zum Erhalt der Biodiversität.
Mit abnehmender Bestandesdichte nimmt die Fruchtbarkeit des Rotwildes wieder zu. Dies lässt sich aus dem Anteil der Schmaltiere und der Kälber führenden Tiere an der Gesamtpopulation ablesen. Wie die Zunahme der Körpergewichte von adulten Tieren zeigt, verbessert sich auch die körperliche Konstitution. Das Geschlechterverhältnis („sex ratio“) beim Rotwild liegt übrigens bei 1:1,2 (Hirsch zu Tier).
5. Erkenntnis: Die Zusammenarbeit mit den ortsansässigen Jägern als Hegespezialisten bei der Umsetzung der Pläne zum Rotwildmanagement hat sich in den 15 Jahren im vinschgauer Parkanteil bewährt. Im lombardischen Anteil des Nationalparks, wo es in der Valfurva Rotwilddichten von 13,4 Stück/km² gibt, wurde mit den selektiven Abschüssen nach dem Beteiligungsmodell erst im Jänner 2012 begonnen. Die Erfahrung ist dort noch kurz und jung.
Italienweit wird in den 23 Nationalparks nur im Nationalpark Stilfserjoch das Rotwild und in mittelitalienischen Nationalparken das Wildschwein auf der Basis von wissenschaftlichen Daten und Managementplänen reguliert.
Die Ablehnung der Jagd nimmt in Italien vor allem aus den urbanen Räumen zu. Die Ausübung der Jagd bleibt in Nationalparken weiterhin verboten. Bemühungen verschiedener Parlamentarier zur Lockerung oder Aufhebung des Jagdverbotes in Nationalparken sind auch in letzter Zeit immer wieder gescheitert.
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau