Nationalpark Stilfserjoch - Rotwildmanagement 2018 - Ziel: Gleichgewicht und Artenvielfalt

geschrieben von Ausgabe 2-19

1222B3Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Antonius Abt (Fackl Töni), 17. Jänner 2019

Auch im Herbst 2018 sind im Vinschgauer, Ultner und Veltlintaler Gebiet des Nationalparks Stilfserjch Entnahmen von Rotwild durch herbstliche Abschüsse erfolgt. Von einigen Artenschützern wurde die Regulierungsmaßnahme heftig kritisiert. In meinem heutigen Beitrag möchte ich die Rotwild-Regulierung  nochmals begründen.


Vorweg: Ein ökologischer Hauptsatz lautet: Ein Ökosystem ist umso stabiler, je artenreicher es bei kontrollierter Anzahl der Individuen ein und derselben Art ist. Oder anders ausgedrückt: Nimmt eine Art in ihrer Individuen-Anzahl unverhältnismäßig stark zu, geht das zu Lasten der Artenvielfalt, weil konkurrenzschwächere Arten einbrechen.

Die Rotwilddichte
Der Nationalpark Stilfserjoch und die angrenzenden Gebiete, so auch der Nationalpark Schweiz, haben für die Rückkehr des Rotwildes in die uns umgebenden Alpentäler eine bedeutende Rolle gespielt. Obwohl seit jeher Alpentier, war der Rothirsch bis am Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund menschlicher Jagd auf kleine Restbestände im Münstertal dies und jenseits der 1260B11050B2Schweizer Grenze eingebrochen. Dieses Areal bildete in der Folge das Kerngebiet für die Wiederbesiedlung der Zentralalpen. Bis heute ist die Frühlingspopulation des Rotwildes im Nationalpark Stilfserjoch  und in den Nachbargebieten auf ca. 10.000 Stück angewachsen bei Dichten von 5-25 Stück pro 100 Hektar Lebensraum. Die wissenschaftliche Literatur gibt Rotwilddichten von 5 St./100 ha als Obergrenze für einen Wald mit Naturverjüngung an. Bei wesentlich höheren Dichten kommt es zu Verbiss-Schäden und die natürliche Verjüngung des Waldes ist kompromittiert.

Derzeitige Verbreitung und Raumnutzung
Der Rothirsch hat in seiner derzeitigen Ausbreitung mehr oder weniger alle potentiell geeigneten Lebensräume besiedelt.  Im Winter und damit in der nahrungsknappen Jahreszeit finden Konzentrationen  auf günstigeren, sonnenexponierten Arealen statt. In diesen eingeengten Überwinterungsarealen kommt es gehäuft zu Verbiss am Wald. Die Wechsel von den Sommer- in die Wintereinstände sind heute  durch Schutzzäune  um landwirtschaftliche Kulturflächen  erschwert oder unterbunden. Im Nationalpark Stilfserjoch besetzt das Rotwild eine Fläche von 57.000 Hektaren, was 44% des gesamten Parkgebietes entspricht.
1135B31054B3Im Nationalpark verfügen wir über eine gute und lange Datenreihe (1983-2018) zum Rotwildbestand. Die Zählungen werden nach einer standardisierten Methode im Frühjahr als Nachttaxationen mit Scheinwerfern durchgeführt. Aus der Erfassung markierter Tiere mit gut sichtbaren Ohrmarken wissen wir, dass die direkten Zählungen den Bestand zwischen 32-48% unterschätzen. Der Rotwildbestand ist außerdem dynamisch und fluktuierend:  Ein verschärfter Auslesefaktor ist etwa die winterliche Sterberate bei großen Schneemengen und lang anhaltender Schneedeckendauer.
Regulationsbedarf
In vier der neun Kleinregionen des Nationalparks Stilfserjoch hat das Rotwild eine Dichte erreicht, welche Konflikte mit den menschlichen Interessen der Landnutzung auslöst.  Aus diesem Grund werden im Vinschgauer Parkanteil seit 1997, im oberen Veltlin seit 2012 und in Hinterulten seit 2018 Entnahmen durch herbstliche Abschüsse vorgenommen. Diese Entnahmen erfolgen auf der Basis von wissenschaftlichen Mehrjahres-Managementplänen, welche vorab vom nationalen Wissenschaftsinstitut ISPRA positiv begutachtet  und vom Umweltministerium genehmigt wurden. Die Pläne schreiben Anzahl, Altersstufen, Geschlechterverhältnis des Rotwildes und den Entnahmezeitraum für die jeweilige geographische Einheit verbindlich vor. Zur Umsetzung der Abschusspläne bedient sich die Nationalparkverwaltung des eigenen Aufsichtspersonals und der lokalen Revierjäger, welche vorab in einer Zusatzausbildung zu den Zielsetzungen des Managementplanes geschult worden sind. Die selektiven Entnahmen sind keine (Trophäen-)Jagd, sondern eine Regulierung der Population. Ziel ist die Wiederherstellung eines verloren gegangenen Gleichgewichtes zwischen einer Tierart und ihrem potentiellen Lebensraum. Das staatliche Rahmengesetz über die geschützten Gebiete 394/1991 lässt in Italiens Nationalparken Interventionen gegenüber der 0002Wildtierfauna als Ausnahme nur in zwei spezifischen Fällen zu:  bei Krankheiten oder Seuchen und bei gestörtem Verhältnis zwischen der Fläche des geeigneten Lebensraumes und der Dichte einer bestimmten Tierart.  Bei den Abschüssen im Nationalpark wird bleifreie Munition vorgeschrieben, um die Vergiftung der in der Nahrungskette folgenden Fleisch- und Aasfresser wie Steinadler oder Bartgeier aus Aufbrüchen und Fehlschüssen zu vermeiden.

Die Begründungen
Die objektiven Begründungen zur selektiven Entnahme von Rotwild aus dem Gebiet des Nationalparks Stilfserjoch fasse ich nachstehend noch einmal zusammen. Dabei ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass durch die Abschüsse die Rotwildpopulation in ihrem Bestand nicht gefährdet und reduziert wird, sondern nur der ökologisch unvertretbare Zuwachs abgeschöpft wird.
•     Selektiver und massiver Verbiss der Triebe an jungen Waldbäumen mit der ökologisch schwerwiegenden Langzeitfolge von verlangsamter oder gänzlich unterbleibender Waldverjüngung und Änderung in der Artenzusammensetzung der Schutz- und Nutzwälder;
•     Selektive Veränderung der Krautschicht am Waldboden mit Verarmung in der Artenzusammensetzung der Vegetationsdecke und Trittschäden, besonders auf den Flächen der winterlichen Konzentration;
•     Veränderung der Käfer-Fauna (v. a. Carabiden - Laufkäfer) am Waldboden;
•     damit Veränderung der Lebensräume und Brutgebiete von Auerhuhn und Birkhuhn als Raufußhühnerarten. Fehlende Wildbeeren wegen der abgefressenen Strauchschicht und vermindertes Angebot an Bodeninsekten (zur Eiweißernährung der Küken) vermindern den Brut- und Aufzuchtserfolg der Raufußhühner;
•     Abnahme des Reh-Bestandes wegen Nahrungskonkurrenz und Störung als konkurrenzschwächere Art vor allem im Winter bei überschneidenden Lebensräumen;
•     Abnahme auch des Gams-Bestandes, wenn Rothirsche immer weiter in deren Lebensraum aufsteigen und im Sommer in den alpinen Rasen zu Nahrungskonkurrenten werden;
•     Ertragsminderung und -entgang beim ersten Futterschnitt auf den Mähwiesen der bergbäuerlichen Kulturflächen, welche an sich schon Ungunstflächen oder Randlagen sind;
•     Verlust an Weidegras auf den Früh- und Niederweiden der Almen mit Verzögerung der Frühjahrweide von Nutztieren;
•     Fraß-, Verbiss- und Trittschäden in Sonderkulturen (Äpfel und Beerenfrüchte);
•     Unfallrisiko und Schäden durch ver-
stärkten nächtlichen Wildwechsel über Straßen und Zusammenstöße mit Autos.

Die Entnahmestatistik aus dem Herbst 2018
Zum Schluss seien noch die Zahlen der Entnahmen im Vinschgauer und im Ultner Parkanteil für den Herbst 2018 und in der Mehrjahresstatistik zusammengefasst:

s45 tabelle


In den 22 Jahren zwischen 1997 und 2018 wurden im mittelvinschgauer Anteil des Nationalparks einschließlich der Jagdreviere Latsch und Kastelbell insgesamt 7.032 Stück Rotwild entnommen. Im obervinschgauer Parkanteil einschließlich des Jagdreviers Taufers  waren es in den 20 Jahren zwischen 1997 und 2016 weitere 10.265 Stück. Ohne dass bisher die angestrebte  und vertretbare Dichte von 5 Stück Rotwild pro 100 Hektar zur Gänze erreicht werden konnte.

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