Zu den markantesten Brüchen zählen der Verlust von Sprache und Schrift durch das Eintreffen der Römer, der Kulturschock, ausgelöst durch die teils gewaltsame Installation der christlichen Religion und die damit einhergehende Umdeutung aller Werte, zuletzt noch die Überlagerung bzw. Verdrängung der wieder aufgebauten Sozial- und Sprachformen durch die bajuwarische Einwanderung und Landnahme.
Die alten Fluss- und Bergnamen reichen in die vordeutsche, meist vorrömische, also „rätische“ bzw. keltisch - etruskische Zeit oder noch weiter zurück. Die Deutungsversuche der klassischen Linguistik bleiben ihnen gegenüber meist hilflos, weil die zur Verfügung stehenden Mittel und Werkzeuge für mehr nicht ausreichen.
Während die zeitliche Distanz zur römischen Kultur beträchtlich erscheint, ist die inhaltliche eher gering. Die Formulierung der Rechtsnormen, die Infrastruktur oder das Ingenieurswesen zeigen viele Gemeinsamkeiten zu heute. Von den Vorgängerkulturen jedoch trennt uns ein schier unüberbrückbarer Abgrund. Vor allem deswegen, weil diese alten Kulturen in ein magisches, animistisches, ein für uns heute irrationales Weltbild gebunden waren. Die sogenannten hl. Drei Könige, eigentlich die hl. Drei Zauberer (Magier) aus dem Morgenland, berühmte und große Vertreter der alten Welt, beherrschten noch das Kunststück, Schicksal und Zukunft buchstäblich aus den Sternen zu lesen. Die Verehrung der Planeten oder Himmelskörper als Göttinnen und Götter fand schließlich ihren irdischen Niederschlag auch in der noch heute gültigen Benennung der Wochentage. In vielen Bereichen hat Rom die Nüchternheit späterer Kulturen bereits vorweggenommen, wie die freie, quasi uneingeschränkte Verfügbarkeit über Menschen, Natur und Landschaft, die Formulierung bestimmter Maßstäbe, wie etwa die Minderbewertung weiblicher Rollen und Fähigkeiten, die Erfindung präziser Benennungen der Kinder wie Primus, Secundus, Tertius bis Sixtus und Octavian, die Klassifizierung der Umgebung mit praktischen Begriffen wie, gutes Feld, schlechtes Feld, sumpfige oder trockene Wiese, waldige oder steinige Gegend, flacher oder steiler Berg. Für eine Kultur wie die römische war es naheliegend, sich mit einem Ordnungssystem auf ihre beiden zentralen Aufgaben zu beziehen, - der militärischen Unterwerfung und der Stabilisierung der unterworfenen Gebiete durch quantitative oder qualitative Bewertung. Das verlangt eine genaue Buchhaltung und einen nüchternen Kopf, während eine magische oder animistische Weltsicht von vielen Tabus geprägt ist, zäh und schwerfällig in der Bereitschaft Veränderung zu akzeptieren. Natur, Landschaft, oder einzelne Teile davon wie Felsen, Steinhaufen, Höhlen, Flüsse oder Quellen, Bäume oder Berge, sind dort ein Teil des realen und geistigen Lebensraumes oder sogar der kollektiven Persönlichkeit (der erweiterte Kunstbegriff). Die Tabus der alten Völker betrafen viele Elemente der „freien“ Natur, die weder beleidigt, gedemütigt und schon gar nicht dem profanen Gebrauch unterworfen werden durften. Im vorderen Orient, der Heimat der Drei Zauberer, war in früheren Zeiten ein Dämon Namens Chumbàwa (Tschumbàwa) bekannt, dessen Aufgabe es war, die „heiligen Zedernwälder“ zu bewachen und deren Abholzung zu verhindern (was bei den barbarischen Römern nicht gelingen konnte). Auch in unserer Bergwelt sind es die ältesten Erzählstoffe, wie die Geschichten über die „Saligen“ und die Grundsubstanz der von Karl Felix Wolff gesammelten Dolomitensagen, die davon berichten. Für unsere heutige, durch und durch rationale, unspirituelle, unsexuelle Gesellschaft ist der Weg in die Gedanken der alten Welt so gut wie versperrt, einzig die Kunst vermag diese Barrieren da und dort zu überwinden.
Zugangshilfe bieten uns jedoch fernere Gegenden, in denen es eklatante, wiederholte Kulturbrüche in dieser Form nicht gegeben hatte. Zum Beispiel die großen, berühmten Berge des Himalaya tragen noch ihre alten Namen, aber nicht jene die wir kennen, sondern die frühesten, jahrtausende alte Bezeichnungen, die noch heute ausgesprochen und verstanden werden. Sie sind benannt vor allem nach weiblichen Gottheiten, als deren Sitz oder Haus. In allen außereuropäischen Gebirgen finden sich markante Erhebungen mit spiritueller Bedeutung. Viele Gegenden kennen einen „heiligen Berg“, manchmal auch einen allerheiligsten (kostbaren Schneeberg) wie den Kailash, den nicht einmal Reinhold Messner zu besteigen verlangt hatte. Durch die besondere Form und Lage zählt dieser Berg zu den bedeutendsten spirituellen Orten des Himalaya. Die Umrundung auf einem mehr als 50 km langen Weg, über den 5700 m hohen „Drölma La“ (Pass der Göttin Tara), ist die wichtigste Pilgerreise für Buddhisten, Hindus und die Bön-Po, der ältesten Kultur Tibets. Der im Westen Mount Everest genannte, und wegen seiner Höhe berühmteste aller Berge, heißt auf tibetisch „Qomolangma“ (Tschomolangma), das heißt „MutterGöttin des Landes“. Der Name eines anderen Berges, „Cho Oyu“ oder Qowowuyag, (Tschobobujag) bedeutet „Göttin des Türkis“. Annapurna bindet in ihren Namen mehrere Bedeutungen, manchmal ist es eine Bezeichnung für Göttin Parvati, die anmutige Bergestochter, ein anderes Mal ist Annapurna eine weibliche Zwillingsgottheit, zusammengesetzt aus Durga (die Unzugängliche), und Kali (die Schwarze, - das Schwarz des Ursprungs). Annapurna ist zu guter Letzt „die Nahrung spendende Göttin“. Ama Dablam, einer der markantesten Berge der Erde, trägt den schönen Namen „Die Mutter mit ihrer Halskette“.
Für Menschen oder Kulturen alter Zeiten stehen bestimmte Landschaften, Geländeformationen, vor allem Gewässer und besondere Berge, außerhalb der praktischen Vernunft, sie sind frei von Unterwerfung oder Ausbeutung, sie sind etwas großartig Mystisches, Spirituelles, Wohnstätten der Ahnen, Geister, Dämonen, der Riesen und Zwerge. Mit den dort anwesenden Gottheiten bilden sie oft eine unteilbare Einheit. Über einen der beeindruckendsten Berge Südtirols, den„Gran Zebrù“ (die Königsspitze), gibt es mehrere Versuche der Namensdeutungen. Hierzulande wird nichts Wichtiges oder Sinnvolles darüber erzählt, im Veltlin (Valtulina, Vuclina) allerdings zirkuliert eine interessante Version:
„La leggenda e l’origine del nome italiano (e lombardo) della montagna si intrecciano. È probabile infatti, che il nome Zebrù (che identifica anche un‘altra vetta poco lontana, il Monte Zebrù) derivi dalla radice celtica se (spirito buono, santo) e dal termine brugh, anch‘esso celtico, che significa rocca o fortezza, - il castello degli spiriti buoni - “.
Das heißt, der große Zebrù (gran-sebrugh) war ehemals eine Wohnstätte der guten Geister, ein King oder Queen of good spirits (die Königinnenspitze) deshalb jahrtausendelang unbesteigbar und durch Fußtritte nicht zu demütigen.
Erich Kofler Fuchsberg
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