Zur Lage
Grosio liegt im mittleren Veltlintal ca. 10 km nördlich von Tirano auf 653 Metern Meereshöhe und zählt heute 5.000 Einwohner. Der Ortsname Grosio wird 1056 erstmals urkundlich erwähnt, seit 1296 scheint Grosio als eigene Gemeinde auf. Zuerst bischöfliches Lehen an das Geschlecht der De Misenti, welche das Territorium von der älteren der beiden Burgen, dem Castello di San Faustino überwachten. Viehzucht und Handel haben im Laufe der Geschichte einen bescheidenen Wohlstand in das Dorf gebracht, wobei die Almen in der Val Grosina zur Schweizer Grenze hin gute und begehrte Sommerweiden dargestellt haben. Von Laas ist Grosio zwei Autostunden entfernt und über das Stilfserjoch nach 85 Kilometern Fahrt über das Stilfserjoch oder den Umbrailpass erreichbar. Die hier an den terrassierten Trockensteinmauern am höchsten aufsteigenden Reben des Veltlins und die großkronigen Kastanienbäume am Burghügel zeigen uns, dass hier das Klima gegenüber dem inneralpinen und kontinentalen Klima von Bormio (auf 1.250 m MH gelegen) schon deutlich milder ist. Und verschiedene Arten von Mauerfarnen am gepflasterten Weg zum Burghügel wie der Nördliche Streifenfarn (Asplenium septentrionale) oder der Milzfarn (Ceterarch officinale) verweisen auf das submediterrane Klima am Sonnenhang. Und schon der Aufstieg zu den Burgruinen über den alten Pflasterweg ist ein Erlebnis für alle Sinne: das Zirpen der Grillen, das Duften des Thymian, die Formen im Katzenkopfpflaster, die Natursteintreppen in die winzigen Gartenbeete an den Hangterrassen und das Abtasten der Moose und Sukkulenten am Felsen.
Rupe Magna
Am südlichen Dorfausgang von Grosio erhebt sich ein mächtiger Felshügel, auf dem zwei Ruinen von großen Burgen stehen, und der durch seine runden Formen die Hobel- und Schleifwirkung der eiszeitlichen Gletscher erkennen lässt. Der Felssporn am Zusammenfluss des Baches Roasco aus dem Seitental Val Grosina mit der Adda im Veltlintal birgt auf der sogenannten „Rupe Magna“ Schalensteine und Felszeichnungen.
Die Felsbilder
Das Phänomen, Felsen mit Gravuren zu versehen, ist im gesamten italienischen Alpenraum von Aosta bis in das Veneto weit verbreitet. In der Lombardei konzentriert sich die Felsbildkunst auf zwei Gebiete: Auf die Gegend um Capodiponte in der Valcamonica, dem Tal des Oglio vom Tonalepass zum Iseosee, und bei Grosio im Veltlintal.
Der Großteil der Felsbilder wurde in der sogenannten Pickeltechnik hergestellt, wobei mit einem Steingerät kleine, runde Ausnehmungen in die Felsoberfläche eingepickelt wurden. Ein weiteres Verfahren ist die Ritztechnik, bei der die Darstellungen auf der Felsoberfläche mit einem Stichel eingeritzt bzw. eingraviert werden. Nicht selten finden sich Felsbilder, welche in der kombinierten Anwendung der beiden Techniken hergestellt wurden.
Die Felsbilder auf der Rupe Magna wurden 1966 von Davide Pace entdeckt. 1970 fand Pace weitere Felsgravuren auf dem Dosso Giroldo unweit von Grosio.
Gletscherschliffe und Menschenhand
Die Rupe Magna verdankt ihre Form dem Gletscherschliff der Veltliner Gletscher und dem mitgeführten Geröll. Gesteinskundlich handelt es sich bei dem Felsen um dunkelgrauen Phyllit mit Einschlüssen von Quarz. Auf der Rupe Magna ist ein großes Spektrum an Motiven dargestellt: Anthromorphe Figuren, darunter Adoranten und Krieger, außerdem Tierfiguren, geometrische Figuren, Schalen, Harken und Kreuze. Die Datierung der Gravuren gelingt über den Vergleich mit Objekten aus archäologischen Grabungen und über stilistische Analysen: Die Gravuren wurden vom Ende der Jungsteinzeit (4. Jahrtausend v. Chr.) bis in die Eisenzeit (1.Jahrtausend v. Chr.) angebracht. In den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die Felsgravuren der Rupe Magna vollständig kartiert und untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass sich über 5.000 Gravuren auf der gesamten Felsoberfläche auf einer Länge von 84 Metern und einer Breite von 35 m verteilen. Damit gehören diese Gravuren zu den größten der Alpen.
Datierung und Deutungshypothesen
Bei einem Drittel der 5.000 identifizierten Darstellungen auf dem Felsen von Grosio handelt es sich um Schalen: kleine, runde Vertiefungen, die isoliert, in Gruppen, aneinandergereiht oder entlang gerader oder kurviger Linien eingetieft wurden. Eingravierte Schalen auf Felsoberflächen aber auch auf Findlingen sind, wie gesagt, in den Alpen weit verbreitet. In den seltensten Fällen können sie datiert werden. Im Falle von Grosio aber können die Gravuren zeitlich zugeordnet werden. Im Innenbereich der „Neuen Burg“ (castrum novum) ist man während archäologischer Grabungen auf Begehungshorizonte gestoßen, die von der Spätbronzezeit bis in die jüngere Eisenzeit datieren (13. – 2./1. Jahrhundert v. Chr.) und aus denen ein Felsbrocken stammt, der neben anthropomorphen Darstellungen auch über 50 Schalen zeigt. Zur Interpretation der Schalensteine gibt es zahlreiche Hypothesen: Grenzmarkierungen, topographische Karten oder astrologische Darstellungen sind nur einige davon. Auch Opferrituale und Gründungsriten werden als Deutungen genannt.
Die topographischen Darstellungen
Zu den ältesten Darstellungen an der Rupe Magna zählen einige netzförmige, geometrische Figuren: Vergleichbare Figuren finden sich auch in der nahen Valcamonica, wo sie in die späte Jungsteinzeit und in die Kupferzeit datieren. Diese Darstellungen werden als schematische Darstellungen eines Territoriums gedeutet: Die verschiedenen Vierecke könnten möglicherweise die Aufteilung der landwirtschaftlich kultivierten Flächen wiedergeben oder Einfriedungen von Viehherden zeigen.
Die Matscher Grafen im Veltlin
Herunten im Dorf, gegenüber der Pfarrkirche zum Heiligen Josef befindet sich inmitten einer zwei Hektar großen Grünfläche, welche heute als öffentliche Parkanlage genutzt wird, der Adelansitz Visconti Venosta. Der Name hat mich hellhörig gemacht. Und im gut recherchierten Kulturführer der Provinz Sondrio habe ich die zeitlichen Etappen gefunden, wann und wo die Matscher Grafen in das Veltlintal gekommen sind. Ursprünglich sitzen die Matscher mit einer ihrer Verwandtschaftlinien als Lehensherrn in Mazzo, ca. 5 km südlich von Grosio in Richtung Tirano gelegen. 1355 kommen die Vinschger Grafen nach Grosio, wo die neue Burg (castello nuovo) ihr Familiensitz wird, bis die Burg 1526 durch die Bündner zerstört wird. Darauf ziehen die Grafen Venosta herunter in die Sommeresidenz im Dorf Grosio, dem heutigen Palazzo Visconti Venosta. Im Jahre 1795 verlegen sie ihren Wohnsitz nach Tirano und 1823 schließlich nach Mailand. Die Gräfin Margherita Pallavicino Mossi Wtwe. Visconti Venosta schenkt den Palazzo Visconti Venosta 1982 der Gemeinde Grosio. Heute ist der Adelsitz als Museum, Bibliothek und Verkehrsbüro genutzt.
Bildernachweis: Alle Fotos: Archiv Nationalpark Stilfserjoch (Walter Anselmi)
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau