„80 bis 100 sind es täglich“, erklärt Paul Tschigg. Er ist ehrenamtlicher Mitarbeiter im Vinzibus-Team, das den Obdachlosen in Bozen allabendlich eine wärmende Mahlzeit reicht. In der Menschenschlange stehen vor allem Männer, weniger Frauen, aller Altersgruppen, Einheimische und viele Migranten. Ihre gefüllten Nylontaschen haben sie bereits in einer dunklen Ecke neben der Halle abgestellt, um ihre Hände frei zu haben, für den Teller Suppe, den Becher Tee, das Joghurt, das Stück Brot. Tagtäglich tragen die Obdachlosen „ihre Heimat“ in zwei Nylontaschen mit sich herum, oder verstecken sie zeitweise in irgendeinem sicheren Winkel der Stadt. Denn es ist alles, was sie haben. An der Kleidung lässt sich ihre Not nicht unbedingt ablesen. Die Kleider holen sie sich in Abständen aus den gefüllten Kleiderkammern. Viele kennen sich, begrüßen und umarmen sich, reden geschäftig miteinander. Ein kaum zu definierender Sprachen-Wirrwarr entsteht in einer fast familiär anmutenden Situation. Einge Menschen setzen sich mit der Suppe an die einfachen Forsttische in der Halle, andere stehen. Die einen essen den kräftigenden Eintopf langsam und bedächtig, die anderen mit hungriger Gier. „Wir achten darauf, dass jeder eine Portion bekommt. Erst dann gibt es eine zweite Suppe“, sagt Paul. Die Halle am Verdiplatz steht seit Dezember 2016 zur Verfügung. Vorher hat sich die Essenausgabe im dunklen Bahnhofspark abgespielt.
Wir stehen nun da mit zugeschnürter Kehle als stumme Zaungäste: Josef Trafoier, Christl Stocker Perkmann und ich als Vertreter der Heimatbühne Schluderns, Michi Rainer, Steffi Eberhöfer und Hannes Frank von der Gruppe Einklang und Rene Wieser, deren Techniker. Wir können miterleben, wie der Erlös aus dem Benefizkonzert „Einklang and friends“ in Memoriam Martina Sapelza verwendet wird. Paul hat uns eingeladen. Betroffen blicken wir in die Runde, in sonnengegerbte Gesichter, in traurige Augen, aber auch in verschmitzte fröhliche Gesichter. Verstohlen versuchen einige ihre Zahnlücken zu verbergen. Alle wollen ihre Würde bewahren. „Jeder hier hat seine Geschichte“, sagt Paul. „Viele sind durch Schicksalsschläge gestrauchelt, andere sind als Flüchtlinge hier“ Dass Menschen im reichen Südtirol Hunger und kein Dach über dem Kopf haben, ist nur schwer zu ertragen. Michi, Hannes und Steffi beginnen zu singen. Erstaunte Blicke richten sich auf sie. Ein groß gewachsener älterer Mann erhebt sich und bewegt sich im Takt der Musik. „Das muss einmal ein schöner Mann gewesen sein“, meint Christl. Ein junger Spanier strahlt und führt seine Hand immer wieder dankend zum Herzen. Auch ein junger Marokkaner genießt die Musik mit geschlossenen Augen Er scheint es zu genießen, wirkt aber etwas benommen. Paul erklärt uns, dass bei ihm der Alkohol wirke. „Muslime sind den Alkohol nicht gewohnt und kriegen dann nichts mehr auf die Reihe“. Manche junge Männer, die als illegale Flüchtlinge in Bozen gestrandet sind, betäuben sich. Christl will einer alten zierlichen Frau, die täglich vom Ritten hierher kommt, einen Wollschal schenken. Die Frau lehnt ab, der Schal sei ihr zu dunkel. Christl ist irritiert. Ein Mann wäscht sich das Gesicht an einem der zwei Waschbecken in der Halle. Rege Bewegung herrscht an der Toilette.
Gegen 21.00 Uhr leert sich die Halle. Einzelne verlassen die Halle mit einer Decke, die ihnen Vinzi-Mitarbeiter gegeben haben. Andere holen sich noch ein Brot und für die Nacht. „Die Menschen sind nun auf der Suche nach einem Schlafplatz in den Notunterkünften oder, wenn diese überfüllt sind, in irgendeinem Winkel der Stadt. „Die Zahl der Obdachlosen steigt“, sagt Paul.
Nachdem auch wir die Halle verlassen haben, fällt unser Blick in die Passage des Handelskammer-Gebäudes. Mehrere Menschen haben dort auf Pappkartons mit Jacken und Decken ihr Nachtlager aufgeschlagen. Wir sind beschämt. „Oft werden sie geduldet. Um halb sechs in der Früh müssen sie aber verschwunden sein“, sagt Paul. Die bitteren Eindrücke lassen uns nicht mehr los. Wir denken an unser warmes Bett, an den gefüllten Kühlschrank. Wir haben erstmals haunah miterlebt, was Obdachlosigkeit bedeutet. Bewusst ist uns jedoch auch geworden, dass es angesichts der großen Zahl an Bedürftigen nicht möglich ist „die ganze Welt zu retten“. Man kann aber einen Beitrag leisten, damit ihre Not gelindert und zumindest ihr Hunger gestillt wird. Für die Menschen am Verdiplatz ist es jeden Abend ein schöner Moment, wenn ihnen der Vinzibus das Essen bringt. Dort erfahren sie Zuwendung und spüren Wärme - wenn auch nur täglich für begrenzte Zeit. Dass wir den Einsatz der Freiwilligen vom Vinzbus mit 6.300 Euro aus dem Benefizkonzert unterstützen können, ist trotz aller Betroffenheit ein gutes Gefühl.
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