Außerhalb der Alpen kommt die Gämse in den Hochgebirgen Mittel- und Südeuropas vor, außerdem in Kleinasien und im Kaukasus. Das europäische Verbreitungsgebiet der Gämse reicht im Norden bis in die Hohe Tatra.
Merkmale
Die Gämse ist in ihrem Körperbau schlank und von ziegenähnlicher Statur. Der Hals ist lang und schmal. Sowohl die Böcke als auch die Geißen tragen Höner. Die Hörner sind klein und dünn, an der Spitze hakenartig nach hinten und unten gebogen und bei den Geißen kleiner als bei den Böcken. Während der warmen Jahreszeit wachsen die Höner in die Länge, im Winter wird das Wachstum eingestellt. Dieser Wechsel von Wachstum und Stillstand führt zur Bildung von Jahresringen, durch die das Alter der Gämse festgestellt werden kann. Als Hochgebirgsbewohner vollzieht die Gämse einen Haarwechsel vom hellen rötlich braunen Sommerfell mit dunklem Aalstrich in das schwarzbraune Winterfell. Charakteristisch für die Gämse ist die schwarz-weiße Gesichtszeichnung.
Morphologische und physiologische Anpassungen
Für den Bergsteiger sind die Schuhe das wichtigste Stück seiner Ausrüstung, für die Gämse ist es der Huf. Wie alle Horntiere ist die Gämse ein Paarhufer. Oberhalb der Klauen (Schalen) sitzen hinten die Afterklauen. Diese sind so angeordnet, dass sie auf ebener Fläche den Boden nicht berühren. Im Abwärtslauf bilden sie in steilem Gelände aber eine zusätzliche Bodenhaftung und Bremse. Die Haupthufe sind sehr weich und zäh. Ihre Sohlenflächen sind plastisch wie Gummi und schmiegen sich daher jeder Rauigkeit des Gesteins an. Die äußeren Hufspitzen sind dagegen härter. Ob ihrer Härte werden sie weniger abgenützt und stehen daher als Leisten vor. Rutscht die Gämse aus, so verfangen sich die Hornkanten des Hufes an Steinspitzen und Bodenunebenheiten. Obendrein sind die beiden Hälften der Hufe ungemein verstellbar, sodass die Gämse auch im rauesten Gelände auf acht Punkten unverrückbar fest steht.
Mit zunehmender Meereshöhe nimmt der Sauerstoffgehalt der Atemluft deutlich ab. Gämsen haben sich im Laufe der Evolution an die dünne Luft in den Bergen angepasst. Sie haben ein „dickeres“ Blut als etwa die Hirsche. Der Zellanteil als fester Anteil im Vergleich zum Plasma als flüssigem Anteil ist im Gämsblut höher: Die Gämsen haben kleinere und deutlich mehr rote Blutkörperchen. Dadurch wird die Oberfläche für die Aufnahme von Sauerstoff im Blut vergrößert und die geringere Verfügbarkeit von Sauerstoff in der Luft ausgeglichen.
Ernährung im Winter
Gämsen überstehen den Winter in großen Höhen oberhalb der Waldgrenze auf windgefegten Graten, auf denen der Wind Zwergsträucher wie die Alpenazalee oder Gämsheide (Loiseleuria procumbens) freibläst. Während Schlechtwetterperioden steigen Gämsen im Winter auch in den Bergwald ab.
Sozialverhalten
Gämsen sind Rudeltiere. Sie schließen sich zu größeren oder kleineren Herden zusammen. Geißen mit ihren Kitzen bis zu den Jahrlingen bilden eigene Rudel. Die alten Böcke leben einzelgängerisch und nähern sich den Geißen nur in der Paarungszeit. Die Brunft fällt in die Monate November und Dezember. Nach sechs Monaten Tragzeit werden Ende Mai Anfang Juni die Kitze gesetzt. In der Regel gebiert die Geiß ein einziges Junges, das nach wenigen Stunden schon in der Lage ist, der Mutter zu folgen.
Besonders während der Brunft fechten die Böcke ihre Rangordnung aus. Sie zeigen dabei verschiedene Haltungen in ihrem Imponiergehabe. Der imponierende Gamsbock stellt sich breitseitig zum Gegner und bewegt sich steifbeinig um ihn herum. Imponieren beide Böcke, so stehen sie oft umgekehrt parallel zueinander. Der Rücken ist zum Buckel gekrümmt, die Rückenmähne und besonders sie Haare auf der Kruppe, die der Jäger „Gamsbart“ nennt, sind aufgerichtet. Genügt das Imponieren nicht zur Klärung der Rangordnung, kommt es zu wilden Verfolgungsläufen und Jagden mit fliegendem Rollentausch zwischen Angreifer und Flüchtendem. Der Kampf ist bei der Gämse unritualisiert und ein echter Beschädigungskampf: Mit den krummen Krucken stoßend und reißend, dringt der Gamsbock auf den Gegner ein, und es spielt keine Rolle, wo er den anderen zu fassen bekommt.
Gämsblindheit
Die Gämsblindheit (Infektiöse Keratokonjunktivitis IKK) ist eine hochansteckende Augenkrankheit bei Wildtieren wie Gämsen und Steinböcken und Haustieren wie Schafen und Ziegen. Die Krankheit wird durch den Erreger Micoplasma conjunctivae hervorgerufen. Die Inkubationszeit ist mit wenigen Tagen sehr kurz. Bei den betroffenen Tieren wird eine Entzündung und Schädigung der Bindehaut und der Hornhaut (Keratokonjunktivitis) mit Augenausfluss beob-achtet. Es kommt in der Folge zur Trübung der Hornhaut, die zur Erblindung des Tieres führen kann. Die Erblindung ist irreversibel. Es kann auch zu Löchern in der Hornhaut kommen. Durch den Verlust des Augenlichtes kommt es häufig zu Stürzen und Todesfällen unter den infizierten Wildtieren, etwa 30 % der infizierten Tiere verenden. Gegen die Keratokonjuntivitis gibt es keine kurative Behandlungsmethode. Infizierte Weidetiere unter den Haustieren müssen abgesondert werden.
Im Engadin und in der Gegend von Livigno sind im vorigen Jahr 2015 am Steinwild einzelne Fälle von Gamsblindheit beobachtet und gemeldet und in der Folge aufmerksam und dicht monitoriert worden.
Jäger, Wanderer, Naturfreunde, Almbewirtschafter und Hirten werden daher auch bei uns um aufmerksames Beobachten ersucht. Fälle von Gamsblindheit sollten bitte an die Jagd-, Forst- oder Naturschutzbehörden gemeldet werden.
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