Die anderen - ein Dutzend etwa - stehen dicht gedrängt vor der Tür, geben das Bild eines bunt zusammengewürfelten Haufens ab, der auf den ersten Blick nicht zusammen zu passen scheint. Es herrscht eine stoische Ruhe, eine meditative Stille an jenem Nachmittag vor der „Wilma“, der Kleiderstube in Naturns.
14 Uhr. Die Sonnenuhr am Rathaus in Naturns strahlt golden im Sonnenlicht. Nur wenige Schritte sind’s von hier bis zur Kleiderstube „Wilma“, einmal um’s Eck. Im gleichen Augenblick öffnen sich auch schon die Türen. Die Stille, die noch vor wenigen Minuten geherrscht hat, ist nun verflogen, die Ruhe weicht einem Raunen und einem Murmeln. „Abbiamo aperto“, ruft Verena Neubauer dem Grüppchen entgegen. Die Kleiderstube in Naturns öffnet ihre Türen pünktlich. „Das ist wichtig“, sagt die Verantwortliche hier, „wir arbeiten nach klaren Regeln.“ Im Foyer der Kleiderstube wurden mehrere Tische zu einer Theke zusammengeschoben. Wie zwei Empfangsdamen sitzen Verena und die freiwillige Mitarbeiterin Martha dahinter. Laut Dienstplan sind sie heute an der Reihe. Dieser regelt den Einsatz der rund 35 freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kleiderstube „Wilma“ genau. An jedem Dienstag sind mindestens acht Freiwillige da und helfen. „Eigentlich helfen wir auf zwei Seiten“, sagt Verena Neubauer, „jenen, die etwas abgeben wollen und jenen, die etwas brauchen.“ Das ist auch das Prinzip der Kleiderstube in Naturns. Nachhaltigkeit. Die Einrichtung, die von der Pfarrcaritas getragen wird, versteht sich als Zeichen gegen das Wegwerfen. Gut erhaltene und saubere Kleidung soll nicht auf dem Müll landen, sondern jenen weitergegeben werden, die sie brauchen. Einfach. Direkt. Ohne Papierkram und kostenlos. „Jeder kann bringen, was er nicht mehr braucht und mitnehmen, was er braucht“, sagt Verena Neubauer. Geben und nehmen.
Auf der Theke liegt eine Liste. Eine Frau mit grauer Kopfbedeckung und schwarzem langem Kleid tritt an den Tisch und streckt Verena Neubauer ihren Ausweis entgegen. Diese reicht ihn an Martha weiter, die sich mit prüfendem Blick das Dokument ansieht, dann schreibt sie den Namen der Frau und die Nummer des Ausweises in die erste Zeile der Liste, daneben setzt sie die Uhrzeit: 14 Uhr. „È già stata qua“, fragt sie die Frau. „Sí delle volte“, antwortet ihr diese. Martha drückt ihr den Einkaufskorb mit der Nummer eins in die Hand, die Frau verschwindet in die dahinterliegenden Räume, in denen wohl sortiert Kinder- und Damenbekleidung in Regalen liegt oder auf Kleiderständern hängt. Der Mann, der es als Zweiter in die Kleiderstube geschafft hat, legt nur eine Rechnung vor. „Ci serve un documento per favore“, sagt Verena Neubauer freundlich aber bestimmt, „questa fattura non vale.“ Aus seiner Brieftasche zieht dieser wenig später seinen Ausweis hervor und auch er verschwindet mit einem Einkaufskorb in die Herrenabteilung nebenan, eilt schnurstracks auf die Jacken zu. Gleich mehrere landen innerhalb weniger Minuten im Einkaufskorb. Der Winter steht vor der Tür.
Schon bald herrscht eifriges Treiben in der Kleiderstube Naturns. Die Leute, die an diesem Nachmittag die Räume und die Regale der Kleiderstube durchstöbern, kommen aus Meran, Partschins, Naturns, Prad, zwei sind ohne festen Wohnsitz, Rumäninnen, die mit dem Wohnwagen umherziehen. Durchschnittlich besuchen jeden Dienstag rund 45 Personen die Kleiderstube. „Heute ist relativ wenig los“, stellt Verena Neubauer fest. Man hat schon andere Dienstage erlebt. Doch seit man in Naturns ist, gibt es eigentlich wenig zu beklagen. Im April dieses Jahres zog man von Rabland nach Naturns, bezog die ehemaligen Räume des Arztambulatoriums. „In Rabland hatten wir sehr beengte Räumlichkeiten im Kellergeschoss des Widums“, erinnert sich Rosina, die in der Kinder- und Damenabteilung die Pullover faltet, und die kurzen T-Shirts wieder an ihren Platz legt, die zuvor von mehreren Frauen aus den Regalen genommen, begutachtet und liegen gelassen worden waren. In Rabland platzte man aus allen Nähten.
Martha Nardone nickt. Ja, Platznot, dieses Problem kennt man in der Kleiderkammer in Schlanders zur Genüge. Nardone ist die Verantwortliche der Kleiderkammer dort, die von den Sozialverbänden der Gemeinde getragen wird. In einer Garage gegenüber vom Schupferwirt ist die Kleiderkammer in Schlanders untergebracht. Die freiwilligen Mitarbeiterinnen machen das beste draus: Sortieren die gut erhaltenen sauberen Kleider sorgfältig, ordnen sie und öffnen jeden Dienstag von 14 – 17 Uhr die Türen. Vier bis fünf Stück – einmal pro Monat - dürfen die Kunden der Kleiderkammer Schlanders mitnehmen, wenn sie sich ausweisen können. „Wir mussten diese Regelung finden“, erklärt Martha Nardone, „man ist mit großen schwarzen Müllsäcken gekommen und hat uns regelrecht ausgeplündert.“
14.12 Uhr in der Kleiderstube „Wilma“. Mit vollem Einkaufskorb kommt der erste Kunde - wie die Besucher manchmal genannt werden - wieder zur Theke. Verena holt die Kleidung aus dem Einkaufskorb und reicht sie an Martha weiter. Diese zählt jedes Stück, faltet es sorgfältig, und lässt die Kleiderstapel in Papiertüten verschwinden. Die Hälfte der 20 erlaubten Stücke sind Jacken. „Ha bisogno di tante giacche“, fragt ihn Martha lächelnd. „Sì, ho quattro figli“, antwortet der Mann. Martha notiert die Austrittszeit und bittet ihn um eine Unterschrift. Mit zwei gefüllten Papiertüten, je eine in der Hand verabschiedet sich der Mann mit einem „grazie“ und entschwindet aus der Tür. Im selben Augenblick kommen Annemarie, Midi und Thea mit prall gefüllten Taschen die Tür herein und verschwinden augenblicklich in den Sortierraum. Dort binden sie sich die blaue Kleiderschürze um: Das Erkennungszeichen der freiwilligen Helferinnen der Kleiderstube. Im Sortierraum wird alles, was donnerstags (von 9 - 11 Uhr) und dienstags in die Kleiderstube gebracht wird, geprüft. Sauber und gut erhalten müssen Kleidung und abgegebene Gegenstände sein, dazu gehören Handtaschen, Bücher, Spielsachen, Lampen, Gürtel, Schuhe, Kasetten, DVDs, Dekorationsgegenstände, Bettwäsche oder auch Geschirr. Was in schlechtem Zustand ist, muss leider in den Müllsack. An die Genossenschaft Albatros hingegen geht Kleidung, die nicht ganz einwandfrei ist oder längere Zeit niemand mitgenommen hat. Außergewöhnliches findet den Weg in den Fundus der Theatergruppe Naturns.
Vor der Geschirrvitrine steht eine Frau mit zwei Männern. Die Frau hält drei weiße Tassen in der Hand und zeigt sie den beiden. „No indietro“, sagt einer der zwei. „Indietro“, fragt sie zurück. „Sì, ci servono giacche per l’inverno“, lautet die knappe Antwort. Die Frau stellt die Tassen zurück, Kleidung ist wichtiger für den sich ankündigenden Winter. Dass man an einer begrenzten Anzahl an Stücken festhält, hat einen guten Grund. „Man hat uns ausgeplündert“, erklärt Verena. Man hat viele Erfahrungen gesammelt über die Jahre hinweg, hat Anfeindungen erlebt, Dankbarkeit, Arroganz, mangelnde Wertschätzung und dann wieder Respekt. Strikte Regeln erleichtern das Kommen und Gehen, das Nehmen und Geben. Ohne Regeln ist kein geordneter Ablauf möglich.
15.40 Uhr in der Kleiderstube Naturns. Der erste Andrang ist vorbei, nur mehr wenige stöbern. Menschen ausländischer Herkunft sind die Hauptbesucher der Kleiderstube, aber auch Einheimische finden den Weg. „Es ist uns ein Anliegen, dass mehr Einheimische zu uns kommen“, sagt Verena. Die Hemmschwelle ist aber leider noch eine große. Im neuen Jahr stehen Veränderungen an. Die Kleiderstube in Naturns und die Kleiderkammern Schlanders, Latsch und Mals wollen den Dienstag als gemeinsamen Öffnungstag einführen. In Mals stehen die Türen am Donnerstag Nachmittag offen, die Kleiderkammer in Latsch öffnet ihre Türen derzeit am Mittwoch.
„Wir werden versuchen im kommenden Jahr am Dienstag zu öffnen“, sagt Margit Marsoner, die Verantwortliche dort. Die Kleiderkammer in Latsch ist – ganz nebenbei bemerkt – die älteste und feiert heuer 15 Jahre. Im November 2000 hat man das erste Mal die Türen geöffnet. Nicht nur am Mittwoch, auch am ersten Samstag im Monat ist die Kleiderkammer bei der Seilbahn St. Martin von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Jeder, der in die Kleiderkammer kommt, darf sieben Stück mitnehmen, Ausweis wird keiner verlangt, gezählt werden die Kundinnen und Kunden trotzdem von den zehn ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen. Im Schnitt suchen zwischen 30 und 40 Kunden die Kleiderkammer wöchentlich auf. Heuer, bis Mitte Oktober, haben bereits 1637 Menschen, die Kleiderkammer in Latsch aufgesucht, 234 davon waren Einheimische. 115 Leute sind allein an einem Mittwoch im Oktober – während der Apfelernte und bei schlechtem Wetter – gekommen. Ein neuer Rekord.
18 Uhr in der Kleiderstube „Wilma“ in Naturns. Die Kleiderstube hat - ganz nebenbei bemerkt - ihren Namen von Wilma Dall’Acqua. Sie war die erste Unterstützerin der Kleiderstube und ist leider verstorben. Den Begriff Kleiderstube hat man in Naturns bewusst gewählt: Stubencharakter soll die soziale Einrichtung ausstrahlen.
Die Stube ist nun leergefegt. Verena blickt Martha zufrieden an und legt die vollgeschriebene Liste auf die Ablage. Annemarie, Thea, Midi und Rosina machen noch Ordnung und räumen liegen gebliebene Kleidung weg. Die letzten Gäste sind eben gegangen. Es dunkelt. Verena Neubauer blickt auf die Uhr und sperrt die Türen ab. Denn genauso pünktlich wie die Kleiderstube „Wilma“ ihre Türen öffnet, schließt sie sie auch wieder.
Die Kleiderkammern – Öffnungszeiten:
Kleiderkammer Mals ist am Donnerstag von 14 bis 16 Uhr geöffnet und befindet sich ober dem Seniorentreff vis à vis vom Alterheim in der Schulgasse.
Kleiderkammer Schlanders ist am Dienstag von 14 – 17 Uhr geöffnet und befindet sich gegenüber vom Schupferwirt.
Kleiderkammer Latsch ist am Mittwoch von 14 – 17 Uhr und jeden ersten Samstag im Monat von 14 – 16 Uhr geöffnet und befindet sich bei der Seilbahn St. Martin.
Kleiderstube Wilma Naturns ist am Dienstag von 14 – 18 Uhr geöffnet und befindet sich in den ehemaligen Räumen des Arztambulatoriums beim Rathaus.
INFO
Tag der offenen Tür in der Kleiderstube „Wilma“ am 12. Dezember 2015 von 10 – 17 Uhr. Alle Interessierten sind herzlich dazu eingeladen. Danke an alle Gönner für ihre Kleiderspenden.
Alle Kleiderkammern sind weiterhin dankbar für jede gut erhaltene und saubere Kleiderspende.
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